Volltext: Liechtensteiner Umweltbericht (1988) (23)

Kein Dorf in unserem Land wurde vom galoppierenden Wirtschafts- wachstum der letzten Jahre dermassen geprägt wie Vaduz. In eine dörfliche Substanz hat sich eine Büro-Stadt hineingezwängt, die weiter und weiter expandiert. Vaduz als Kommerzplatz ist reich geworden, arm aber als Lebensraum. Nirgends zeigen sich die zwei Gesichter des «Fortschritts» bei uns so deutlich wie hier. Gleichzeitig ist Vaduz modellhaft für unser Land, weil es mit einigen Schritten Vorsprung eine Entwicklung markiert, die ganz Liechtenstein erfasst hat. Dipl. Psycho- loge Werner Hasler vergleicht Anspruch und Wirklichkeit in Vaduz. 
Seite 16 Liecht. Umweltbericht, März 1988 Vaduz — Führungsanspruch und Wirklichkeit Werner Hasler, Planken Einige Zahlen und Fakten zeigen die Viel- schichtigkeit einer Wohlstandsentwicklung, wie sie Vaduz — und in abgeschwächter Form unser ganzes Land — durchgemacht hat. • 
An gewissen Orten in Vaduz wurden die Klafterpreise für den Boden innerhalb von drei bis vier Jahrzehnten von wenigen 
Franken  auf fünfstellige Zahlenwerte hin- aufgetrieben. So überrascht es nicht, dass unsere grösste Gemeinde bei den Wohn- bauförderungen zusammen mit den klein- sten Gemeinden Schellenberg, Gamprin und Planken am Schluss liegt. Der «Nor- malbürger» ohne eigenen Boden vermag in Vaduz das Bauen längst nicht mehr. Der Druck auf den Boden der anderen Ge- meinden wächst unaufhaltsam.   • Andererseits hat der «Kommerzplatz Va- duz» auch den Gemeindesäckel in stattli- che Überschüsse gebracht. Vaduz ist sehr reich geworden. Beispiel 1985: 14 Millio- 
nen Franken Überschuss bei Gesamtein- nahmen von 30 Millionen Franken. Dabei war das Investitionsvolumen keineswegs bescheiden. • 
Völlig andere Aspekte einer Wohlstands- entwicklung zeigen die folgenden Zahlen: In Vaduz teilen sich durchschnittlich 7 Per- sonen 5 Autos! Dies ist ein vermutlich weltweites Spitzenresultat, sind doch auch die Säuglinge und Greise miteinbezogen. Das bevölkerungsmässig vergleichbare Schaan hat demgegenüber 33 % weniger Autos, aber 12 % mehr Fahrräder. Auch in der Produktion von Abfällen liegt Vaduz einsam an der Spitze mit 636 kg pro Ein- wohner und Jahr, gegenüber dem Landes- durchschnitt von 433 kg. In der Sparte «Kehricht» überrundet Vaduz das gesamte Unterland, welches einen um 85 % höhe- ren Einwohnerstand aufweist (Zahlen 1985). Wachsende Wirtschaftsentwicklung geht immer 
noch einher mit der steigenden Be- anspruchung von Natur und Umwelt. Auch diesbezüglich ist Vaduz ein Beispiel. 
• Eine wiederum andere Facette der Wirt- schaftsentwicklung zeigen Veränderungen in der Zusammensetzung der Wohnbevöl- kerung: In Vaduz ist jede(r) zweite Bewoh- ner(in) von ausländischer Nationalität; der Anteil der Bewohner mit Vaduzer Bürger- recht liegt bei einem Viertel! Ein Drittel aller Privathaushalte sind hier Einperso- nenhaushalte, was deutlich (40 %) über dem Landesdurchschnitt liegt. Demgegen- über liegt Vaduz bei den 4- bis 6-Personen- haushalten fast ebenso deutlich unter dem Landesdurchschnitt (Zahlen 1980). Also Verstädterungs- und Anonymisierungsten- denzen. Steigende  Kommerztätigkeit wohl, aber gleichzeitig auseinanderbrök- kelnde Dorfgemeinschaft! • 
Ein weiteres Indiz für Wachstum und Ent- wicklung lesen wir aus der Architektur, 
die einem Ort Gesicht und Prägung gibt, dem Menschen aber das Empfinden, geborgen zu sein. Nirgends in unserem Land wurde die alte dörfliche Struktur so radikal beisei- tegeschoben wie in Vaduz. Diese Entwick- lung markiert den Anspruch auf Bedeu- tung; andererseits haben die vielen Kerben ein reizvolles Gesicht zerstört zur Unkenn- barkeit. Ist Vaduz noch ein Dorf, oder schon eine Stadt, oder beides zusammen? Kann ein Auge noch Ruhe, ein Mensch 
  noch Heimat empfinden in einer chaoti- schen und wild überbauten Landschaft? Kurz zusammengefasst, zeigt sich das folgen- de Bild: Der enorme materielle Wohlstand geht Hand in Hand mit einem offenbar unauf- haltsamen Niedergang der Natur (welche von uns im kommenden Jahrzehnt «Reparaturlei- stungen» zurückfordert, ein Teil des erwirt- schafteten Wohlstandes!) und gleichzeitig einer Landschaftszerstörung, welche den Menschen letztlich einsam macht, eine subtile Zerstörung von «Heimat». Andererseits zei- gen sich Auflösungserscheinungen und An- onymisierungstendenzen im Gemeinschaftsle- ben, spürbar vor allem für alte Menschen. Etwas ist aus dem Lot geraten und nichts vermag dies besser zu dokumentieren als die Tatsache, dass nie zuvor soviel Pillen ge- schluckt und Medikamente verschrieben wor- den sind wie heute mit dem Zweck, den Men- schen den Alltag (noch) erträglich zu machen: Künstliche «Aufheller» und «Beruhiger» für eine wachsende Zahl Menschen, die sich in dieser rasenden Entwicklung selbst aus dem Auge verloren haben. Gemahnt sind wir hier auch an das biblische Wort: «Was nützt es dem Menschen, wenn er viel weltliche Dinge gewonnen hat, aber an seiner Seele Schaden leidet?» Eine neue Definition von «Fortschritt» und «Entwicklung» drängt sich uns heute auf und vielmehr noch sind wir gefordert in unserer Bereitschaft, aus einer gefährlichen «Wohl- standsfalle» herauszufinden zu den wahren Lebens-Qualitäten!
	        

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