Sagen
26. Sagen aus Triesen
Die nachstehenden Sagen aus Triesen sind der
Zusammenfassung derselben durch O. Seger in
JBL 1965 und 1973 entnommen.
1. St. Mamerten
Das sagenumrankte Kirchlein St. Mamerten
Keine Kirche unseres Landes ist so sagenumrankt
wie die Kapelle des heiligen Mamertus, wohl darum,
weil sie einsam auf dem Hügel über dem Dorfe
stand, dem Geheimnisvollen näher als ein Gottes-
haus als Mittelpunkt einer Siedlung. In vielen Sagen
ist sie Schauplatz der Handlung.
Der Untergang von Trisona
Das Dorf Triesen war einst eine schöne Stadt und
hiess Trisona. Die Bewohner aber lebten gottlos, so
dass grosse Strafe über sie hereinbrach.
Es flog ein Engel mit einem feurigen Schwert in der
Hand über die Stadt und rief: «Wer dem Untergang
entgehen will, fliehe gegen Sant’Amerta!» Aber nur
ein einziges Weib folgte dem Ruf. Seine zwei Kinder
liess es daheim und gab ihnen gedörrte Obstschnitze
zum Naschen und Spielen. Das Weib kniete im
Kirchlein nieder und betete, als ein furchtbares
Getöse sie aufschreckte. Sie trat unter die Türe und
sah zu ihrem Entsetzen das ganze Trisona durch eine
Rüfe überschüttet. Jammernd schlug sie die Hände
über dem Kopf zusammen und wusste nichts anderes
zu tun, als wieder in die Kapelle zu fliehen und zu
beten. Als sie abermals heraustrat, war ganz Trisona
untergegangen, nur ihr Haus stand noch, und als sie
dahinkam, sassen die zwei Kinder in der Stube hinter
dem Tisch bei den Schnitzen.
Dieses Haus zeigt man noch heute. Es sticht durch
Grösse und Altertümlichkeit von allen anderen Häu-
sern ab und ist auch in der ganzen Gasse das einzige,
das eine «Bsetzi» hat.
Auf der Anhöhe über dem Dorfe steht unversehrt die
Sant-Amerta-Kapelle.
O. Seger hatte vor Jahren die Sagen im ganzen Lande
durch Schüler sammeln lassen, dieselben in den bei-
den Jahrbüchern des Historischen Vereines 1965 und
1973 nicht nur veröffentlicht sondern denselben
Erklärungen beigefügt. Zur vorstehend wiedergege-
benen Sage vom Untergang von Trisona schreibt er
im JBL 1965, 142:
«Die Sage gehört zum Typus der Untergangssagen,
wie sie schon aus der Vorzeit überliefert sınd: Sintflut
und Atlantis und besonders der Untergang von
Sodom und Gomorrha sind die ältesten Vorbilder.
Ob ein geschichtlicher Kern zugrundeliegt, ist'nicht
zu ermitteln. Das Bergsturzgebiet von Triesenberg
und Triesen ist postglazial, also geologisch gesehen
nach der Eiszeit entstanden, aber die ältesten Sied-
lungsspuren aus der Römerzeit liegen über dem
Schutt dieses Bergsturzes, so dass eine Erinnerung ar
ein elementares Ereignis nicht anzunehmen ist.
In den Sagen dieser Art zögert Gott mit der Strafe,
aber die Warnung wird von den Bewohnern miss-
achtet. Wasserflut oder Versinken und in den Alpen-
gebieten Überschütten durch Rüfen und Bergstürze
sind die verschiedenen Formen des Unterganges.
In manchen Erzählungen sind die Bewohner des dem
Untergange geweihten Ortes bis auf einen verderbt
und missachten z. B. das Gebot der Gastfreundschaft
oder der Hilfsbereitschaft für Arme.
In den Alpenländern ist vielfach die Vergletscherung
oder Verödung von einst blühenden Alpen zu Glet-
schern und Wildnis in der Sagenwelt verbreitet,
immer als Strafe für frevelhafte Handlungen.
Am ähnlichsten zu unserer Sage ist der Untergang
von Gross-Ernen im Wallis (Guntern Nr. 37): Die
Bewohner eines reichen Dorfes waren lieblos und
hartherzig. gott stellt sie auf die Probe und schickt
zwölf Engel in Gestalt armer Leute ins Dorf, die nir-
gends Herberge finden als bei einer armen Witwe,
deren Haus als einziges vom Untergang durch den
Bergsturz bewahrt bleibt.»
Der Schatz von St. Mamerten
Eines Abends ging ein Bursche von Triesen in das
Kirchlein Sankt Mamerten, um zu beten. Plötzlich
erschien ihm ein Geist, der zu ihm sprach: « Wenn du
reich werden willst, so komme mit zwei anderen
Burschen um Mitternacht hierher. Du wirst eine
Kiste sehen, die ist voll Gold, und auf ihr wird ein
Hund sitzen. Wenn ihr ihn herunterwerft, so sol)
alles Gold, das darin ist, euch gehören.»
Der Bursche kehrte wirklich am nächsten Abend mit
zwei Freunden wieder, und sie knieten hintereinan-
der in die Kirchenbänke. Als die Glocke der Pfarr-
kirche die Mitternachtsstunde schlug, erschien wirk-
ich die Kiste mit dem Hund. Der Bursche, der in der
arsten Bank kniete, stand auf und versuchte, das Tier
aerunterzuwerfen, aber es sprang auf, starrte ihn mit
feurigen Augen an, kläffte und jaulte und sprang von
einer Seite des Kistendeckels auf die andere.
«Kommt, helft mir!» keuchte der Jüngling. Der
zweite kam, und als auch er nichts erreichte, forder-
ten sie den dritten auf. Der aber rief mit zitternder
Stimme: «Mir fürchtet es!»
Da hörten sie einen gellenden Schrei, und Hund und
Kiste waren verschwunden. Der Geist aber, der dem
arsten erschienen war, kam, weinte und klagte und
ref: «Jetzt muss ich wieder hundert Jahre warten, bis
ich jemand um Hilfe bitten kann.» ;
Es wurde stockdunkel im Kirchlein, und die Freunde
konnten sıch nicht rühren und mussten drinnen