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8. Zustand Ratiens unter den Karolingern«
Die letzten Zeiten der Karolinger waren, wie wir sahen,
voll Gewalttaten und Räubereien; die Kirchenzucht zerfiel
und Verderbnis der Sitten schlich bei Geistlichen und Welt
lichen ein. Der Klosterbruder Wettin zu Reichenau schildert
in seinen „Gesichten" die Qualen, welche die räuberischen
Grafen und leichtfertigen Mönche in der Hölle leiden. Manche
wollten dann durch Schenkungen an Kirchen und Klöster ihre
Ungerechtigkeiten gut machen.
In Rätien blühten damals vorzüglich die Klöster von
Disentis und Pfäfers, die von den Päpsten und Königen mit
Freiheiten ausgestattet und durch Vergabungen reich an Be
sitz geworden waren. Die Bischöfe von Chur, bereits bedeu
tende Landesherren, nahmen, durch Charakter und Stellung
berufen, lebhaften Anteil an den Angelegenheiten des Reiches.
Da sie von der Gerichtsbarkeit der Grafen für ihre Güter und
Angehörigen befreit waren, bildete sich der Stand der sog.
Gotteshausleute; denn immer schien es verdienstlicher und
der Ehre eines freien Mannes weniger nachteilig, der Eigen-
und Dienstmann der hl. Maria, der Schutzpatronin des Hoch-
stifts Chur, als der eines weltlichen Herrn zu sein. Zahlreich
war der Stand der Freien, die auf eigenen Gütern saßen,
aber sie litten unter der Strenge des Heerbannes und der
Willkür der Schultheißen oder Zentgrafen. Diese standen in
Bezug auf die königlichen Einkünfte und Gefälle unter der
Oberaufsicht der Kammerherren. AIs solche erscheinen um jene
Zeit (809) Erchanger und Berthold. Die Schulthaißen waren
vom König bestellt, sie hatten ihre Schössen bei ihren Gerich
ten, bezogen die königlichen Gefälle und führten das Volk
ihres Bezirkes in den Krieg. Unter Kaiser Arnulf oder schon
früher wurde die herzogliche Würde hergestellt. Rudolf, den
wir als Herzog von Rätien erwähnt finden, gebot wohl noch
über einen Teil von Schwaben; denn die Zeitbücher von St.
Gallen unterscheiden Churrätien und Großrätien (Retia
major). Auch Burkard, der Markgraf von Rätien, wird ein
Fürst (Herzog) zu Schwaben genannt. Rach seinem Tode
maßten sich die obgenannten Kammerboten die herzoglichen
Rechte an. Ueberhaupt brach nach Kaiser Arnulfs Tod eine
Zeit voll Gewalttätigkeiten herein, von denen die Zeitbücher
voll sind.
Unter den Karolingern trat besonders Unterrätien her
vor und namentlich das Drusustal (der Walgau). Hier waren
auch die Nachkommen Hunfrids am meisten begütert. Wir