ULI MARISS - «VERRÄTER UND WETTERDÄMON»
MANFRED TSCHAIKNER
die Autoren die Überlieferung vom Hirten auf
Amerlügen als «durchaus glaublich» bezeichneten:
Er soll beim Herannahen des Feindes zur Warnung
der österreichischen Truppen so lange ins Horn
geblasen haben, bis er tot umfiel.‘
Der Vermerk im Frastanzer Jahrzeitbuch, der
möglicherweise erst ein halbes Jahrhundert später
eingetragen wurde, bildet ebenfalls noch keinen
überzeugenden Beleg dafür, dass bei der Niederla-
ge von 1499 wirklich Verrat im Spiel war. Ja, selbst
wenn unmittelbar nach der Schlacht von Seiten der
Besiegten behauptet worden wäre, ihr Misserfolg
sei auf Verrat zurückzuführen, muss dies nicht
zutreffen.
Es lässt sich zwar einwenden, dass in der histo-
rischen Erinnerung der Eidgenossen möglicher-
weise auch deshalb keine Nachrichten über einen
Verräter erhalten sind, weil die Sieger wenig
Anlass sahen, sich dessen zu rühmen. Dagegen
spricht wiederum, dass aus Schweizer Sicht eine
bezahlte Führung der Truppen über den Berg-
rücken keinen Verrat dargestellt hätte, denn die
Bewohner der Grafschaft Vaduz hatten schon eine
Weile davor den Eidgenossen einen Untertaneneid
geleistet. Wenn Uli Mariss beim Übergang über die
nördlichen Ausläufer des Drei-Schwestern-Massivs
wirklich eine bedeutende Rolle gespielt hätte, wäre
dies also in der eidgenössischen Chronik nicht un-
bedingt zu vertuschen gewesen. Gleichzeitig kann
ein nicht erwähnenswerter Hilfsdienst kaum mit
der Entscheidung der Schlacht in Verbindung ge-
bracht werden.
DER FREMDE ULRICH OB DER KIRCHEN
War aber mit dem «traditor» (Verräter) im Frastan-
zer Jahrzeitbuch überhaupt Uli Mariss gemeint? In
den von Frick vorgestellten Quellen aus der Zeit um
1500 wird dieser nie allein als «Ulrich ob der Kir-
chen», sondern immer mit seinem Familiennamen
Mariss und der Zusatzangabe «zul[r] Kilchen» an-
geführt.
Schwerer wiegt jedoch der Umstand, dass im
Frastanzer Jahrzeitbuch kein Herkunftsort ver-
zeichnet ist, denn es gab in fast jedem Dorf einen
Bauern, der «ob der Kirchen» wohnhaft war. Wa-
rum ist die Herkunft aus Schaan nicht angeführt,
wenn ein Bewohner dieser Nachbargemeinde ge-
meint gewesen sein sollte? Wäre der Verräter all-
seits bekannt gewesen, hätte man seinen Namen
überhaupt nicht ins Jahrzeitbuch eintragen müs-
sen. War aber die Nachricht für spätere Jahrhun-
derte bestimmt, die von den Vorgängen nichts
mehr wussten, wäre die Herkunft des Verräters
ınbedingt zu erwähnen gewesen. Es drängt sich
die Vermutung auf, dass man diese eben nicht
(mehr) kannte.
Zum Zeitpunkt der Eintragung ins Frastanzer
Jahrzeitbuch wurde also wahrscheinlich noch eine
Person unbekannter Herkunft des Verrats beschul-
digt. Möglicherweise hatte sie sich früher arbeits-
bedingt eine gewisse Zeit lang in der Region um
Frastanz aufgehalten. Jedenfalls erfüllte ein Fremder
die Sündenbockfunktion viel unproblematischer als
Einheimische, deren soziale Ausgrenzung unter
Umständen tiefe Gräben zwischen Verwandtschaf-
ten aufgerissen hätte.
Für die Annahme, dass der Verrat einem Frem-
den zugeschrieben wurde, spricht auch das Kürzel
vor dem Namen, das wohl am ehesten wie bei
Burmeister mit «dictus» (= genannt) aufzulösen ist.
Bei Einheimischen würde damit höchstens der
Zuname angefügt sein (z. B. 1505: Virich Mares
genandt zur Kilchen); zumindest der Vorname
stand in jedem Fall fest. Wenn aber beide Namens-
formen unter dem Vorbehalt «dictus» angeführt
sind, deutet dies darauf hin, dass es sich um keinen
allseits bekannten Ulrich ob der Kirchen aus Fra-
stanz oder einem Nachbardorf handelte, sondern
dass man eben nur wusste, wie er genannt wurde.
6) Pfarrarchiv Frastanz, Altes Jahrzeitbuch, fol. 14a; bei der Auflö-
sung der Abkürzung nach dem Wort «traditor» halte ich mich an die
Lesung von Burmeister (wie Anm. 1), S. 118.
7) Rapp, Ludwig; Ulmer, Andreas: Topographisch-historische Be-
schreibung des Generalvikariates Vorarlberg. Bd. 6. Dornbirn, 1937,
S. 133