Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1995) (93)

In den dreissiger Jahren ging die zahlenmässige Dominanz der Frauen in den Fabriken dem Ende zu. Mit der zweiten Industrialisierungswelle in und nach dem Zweiten Weltkrieg fand ein Umstruktu- rierungsprozess statt, der vor allem für Männer neue Arbeitsplätze schuf. So stieg der Anteil der Männer an der Fabrikarbeiterschaft von 1935 bis 1950 von 34 auf 54 Prozent.130 Wieviel Frauen in den dreissiger Jahren arbeitslos wurden, lässt sich nicht feststellen, da es zu dieser Zeit noch keine Statistiken über weibliche Arbeitslosigkeit gab. Die spärlich erhaltenen Arbeitslosenlisten, die die Ar- beitersektionsvorstände an die Gemeinden schick- ten,131 und die Anzahl der Bewerbungen für Not- standsarbeiten vermitteln einen gewissen Einblick in das Ausmass der männlichen Arbeitslosigkeit;132 die weibliche Arbeitslosigkeit aber bleibt im dun- keln - nicht zuletzt, weil die Zeitgenossen sie kaum als Problem wahrnahmen.133 Während Neugründungen wie die Ramco AG die Frauenarbeitslosigkeit etwas milderten, wurden in der von der Krise am meisten betroffenen Textil- industrie Arbeiterinnen entlassen oder ausge- stellt.134 Entlassungen und Ausstellungen waren ge- prägt von der «übersichtlichen Grösse» Liechten- steins und dessen agrarischer Struktur: Jenny, Spoerry & Cie beschrieben den bei ihnen praktizierten Arbeitskräfteabbau folgendermassen: «Den Sommer hindurch gingen dann mehrere in andere Stellungen oder nahmen einen längeren od. kürzeren Erholungsurlaub, so dass der Rest ohne allzu grosse Schwierigkeiten unterzubringen war & weshalb wir auch von einer gänzlichen Entlassung von Arbeitern bis jetzt absehen konnten. Da sich nun aber auf den Winter wieder alle gerne in die Fabrik drängen so wurde mit den Familien, von denen drei & mehr Leute in die Fabrik gehen, vereinbart, dass abwechslungsweise eines von ihnen zu Hause bleiben muss, wie das heute in vie- len Betrieben in der Schweiz auch gemacht wird, um sonst nötige Kündigungen zu vermeiden.»135 Die Unternehmensleitung zog also beim Abbau von Arbeitskräften die Bedürftigkeit der Familie der Ar- beiterin oder des Arbeiters als Kriterium für Aus- stellung oder Entlassung heran. Dabei berücksich-tigte 
sie nicht nur die in ihrem Betrieb beschäftig- ten Familienmitglieder, sondern auch anderswo erwerbstätige Familienangehörige. Nach Angaben des Unternehmens konnte eine Kreszenz Eberle z.B. entlassen werden, weil drei Schwestern von ihr in Trübbach «in Arbeit standen».136 Andere Kriterien für den Ausstellungs- und Entlas- sungsmodus waren die Dauer des Anstellungsver- hältnisses137 und teilweise die Gemeindezugehörig- keit.138 Solche eher sozialen Erwägungen kamen jedoch nur solange zum Tragen, als sie mit den be- triebsökonomischen Aspekten in Einklang standen. Wenn es die Betriebsleitung für notwendig hielt, eine Arbeiterin zu entlassen, tat sie dies - auch wenn sie wusste, dass diese dadurch in soziale Not geriet.139 Ökonomische Erwägungen veranlassten die Firma beispielsweise, die Anregung einiger Arbeiterinnen abzulehnen, die Arbeit auf mehrere Frauen mit kürzerer Arbeitszeit zu verteilen, statt wenige Arbeiterinnen 48 Stunden - in der Ring- spinnabteilung sogar meist 52 Stunden - zu be- schäftigen.140 Die Handhabe der Entlassungs- und Ausstellungspraxis bei Jenny, Spoerry & Cie wurde von der Arbeiterschaft genauestens kontrolliert. Betroffene Arbeiterinnen und auch der LAV (Liech- tensteinischer Arbeiterverband) beschwerten sich in der Zwischenkriegszeit mehrmals bei der Regie- rung über erfolgte Kündigungen und Ausstellun- gen.141 Sie kritisierten, dass zum Teil bedürftige Arbeiterinnen ausgestellt würden, während von anderen Familien noch zwei im Betrieb weiter- arbeiten könnten. Zentraler Kritikpunkt seitens der Arbeiterschaft war die Behauptung, Liechtensteinerinnen seien mehr vom Abbau betroffen als Ausländerinnen.142 Arbeiterinnen forderten von der Regierung, sich dafür einzusetzen, dass soweit als möglich zuerst die ausländischen Arbeitskräfte entlassen würden: «Auch wäre zu untersuchen, ob etwa Ausländer da sein könnten, welche es nicht so bitter nötig hätten, oder gar ihren Beruf gewechselt haben, auch könn- ten solche hier sein, die keine Aufenthaltsbewilli- gung haben.»143 Solche gruppenegoistischen For- derungen, die versuchten, die Folgen der wirt- 44
	        

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