Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1995) (93)

AMERIKANISCHE MUSIKER ALS STUDENTEN BEI RHEINBERGER / E. DOUGLAS BOMBERGER gleichzeitig die persönliche Entwicklung zu inspi- rieren, wurde von Josef Rheinberger besser erfüllt als von jedem anderen Kompositionslehrer der da- maligen Zeit. Sämtliche Schüler Rheinbergers sprachen von der strengen Disziplin in seinen Klassen wie auch von der grossen Aufmerksamkeit ihres Lehrers für jedes Detail. Viele Studierende sahen dies bereits schon für Inspiration an und nahmen die vermit- telten Regeln als Hauptbotschaft. Huss betont jedoch, dass Rheinbergers Absicht weiter reichte: «Er dörrt nicht die Vorstellungskraft und die poeti- sche Phantasie des jungen Komponisten aus, in- dem er ihm eine Vielzahl trockener mechanischer Kontrapunktübungen aufbürdet, sondern er be- steht darauf, dass alles, auch beim kleinsten Choral oder Kanon, wirklich seinem Wesen nach musikalisch sein soll».21 Rheinberger war unnach- sichtig, wenn er die Grundlagen von Kontrapunkt, musikalischer Form und Instrumentation unter- richtete, aber es war immer so zu verstehen, dass alles als Mittel galt, um zur Schaffung wirklicher Musik hinzuführen. Neben der Vermittlung der technischen Grundla- gen war der wichtigste Teil von Rheinbergers Me- thode die Ermutigung zum individuellen Kompo- nieren. Statt Aufgaben zu stellen, in bestimmten Formen oder für genau festgelegte Instrumenten- kombinationen zu schreiben, liess er seine Studen- ten eher frei arbeiten. Man hatte bei ihm keine Nachteile, wenn man nicht speziell etwas kompo- nierte, und gemäss den Inspektionsbüchern gab es auch keinen Druck in dieser Richtung. Nach den Jahresberichten der Königlichen Musikschule zu urteilen, gab es Studenten, die nie etwas ausser- halb des ordentlichen Unterrichtes produziert ha- ben. Die Schüler mit der nötigen Initiative jedoch komponierten unter Rheinbergers Führung, einige von ihnen, wie zum Beispiel Parker, sogar in rei- chem Umfange. Rheinbergers eigene Praxis, seine gesamte Freizeit dem Komponieren zu widmen, war gewiss ein Modell für die strebsameren Schü- ler. Indem der Lehrer jeglichen Druck unterliess, jedoch selbst als Beispiel wirkte und den Studenten die Freiheit gab, ihren eigenen Vorstellungen zu 
folgen, versuchte Rheinberger das zweite Ziel des Kompositionslehrers zu erreichen. Ein Ereignis aus seinem späteren Leben illustriert deutlich den weiter oben angeführten Zwiespalt des Unterrichtens. 1899 bat der Musikverlag Novello & Co. als Herausgeber der «Musical Times» den be- rühmten Lehrer in München um seinen Rat in einer «Kontrapunkt-Kontroverse». Novellos Handbuch für musikalische Prüfungen («A Handbook of Exa- minations in Music») von Ernst A. Dicks war in einem Konkurrenzblatt, den «Musical News», scharf kritisiert worden. Besonders eine Übung wurde dabei in Frage gestellt, und die Herausgeber der «Musical Times» fragten Rheinberger nach seiner Meinung zu dieser Aufgabe. Diese bestand aus einer neuntaktigen Phrase mit einer ganzen Note in jedem Takt und sollte in vierstimmigem, reich verzierten Kontrapunkt ausgearbeitet werden. Rheinberger kam der Bitte nach, indem er die Schwächen des ge- gebenen Cantus firmus kommentierte, jedoch drei mögliche Lösungen beifügte, nachdem er in seinem Skizzenbuch zwölf verschiedene ausgearbeitet hatte.22 Die «Musical Times» druckte diese drei Lö- sungen wie auch eine englische Übersetzung eines Briefes von Rheinberger mit folgendem Kommentar: «Professor Rheinberger hat uns, zusätzlich zu dem Kommentar über die Übung und seiner Meinung zum Cantus firmus, freundlicherweise drei eigene Ausarbeitungen übersandt, welche man zweifels- ohne mit grossem Interesse zur Kenntnis nehmen wird. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass gewisse Vertreter der <strengen> Schule ihre Häupter über Professor Rheinbergers Kontrapunkt schütteln 19) Louis C. Elson. «The History of American Music» (New York and London: Macmillan 1904), S. 253. - Aus der Sicht des späten 20. Jahrhunderts ist Nadja Boulangers Einfluss mindestens ebenso bedeutend. Kein europäischer Lehrer kann allerdings mit diesen beiden konkurrieren. 20) «Hauptprüfung im Conservatorium» in: Neue Zeitschrift für Musik 68/23 (31. Mai 1872). S. 233. 21) Huss: «Rheinberger as a Teacher», S. 18. 22) Nach: Briefe und Dokumente, Band VII. S. 96; die Beispiele be- finden sich in Rheinbergers Skizzenbuch Nr. 6, S. 33-35 in der Baye- rischen Staatsbibliothek in München. 329
	        

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