Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1994) (92)

GUSTAV RITTER VON NEUMANN FLORIN FRICK sen hatte, entstanden dennoch künstlerische Lei- stungen, die mehr waren als nur die von einem for- menden Willen bewusst <stilgetreu> zusammenge- schlossenen Einzelheiten... Es geht daher nicht an, sich einfach mit dem Vorwurf mangelnder Origina- lität und unproduktiver Nachahmung zu begnügen und den strengen Historismus zu einem Degenera- tionsprozess zu stempeln.»72 Vom Historismus weniger überzeugt war E. Dobra- wa: «In der Ringstrassenzeit war die Begabung nicht stark genug, um eine neue Kunst zu schaffen, den Inhalt der Zeit in einer Kunstform auszu- drücken. Die Kunst lebte vom reichen Erbe eines in zwei Jahrtausenden erarbeiteten Formenschat- zes.»73 Es war eine der Aufgaben des Historismus, einen Ausgleich zwischen den beiden autonomen Teilen eines Baues, dem Grundriss und der Fassade, zu schaffen. Es ist dies einerseits «die Autonomie des Grundrisses, der seit dem Revolutionsklassizismus eine grössere Selbständigkeit und Eigenwertigkeit seiner künstlerischen Erscheinung unabhängig von Utilitätserwägungen hat, als dies früher der Fall war. Anderseits war das 19. Jahrhundert und be- sonders seine zweite Hälfte eine durchaus optisch- impressionistisch orientierte Zeit, in der nicht zu- fällig die Malerei die führende Kunst darstellte. Diesen Bestrebungen entspricht es, wenn sich das Problem der Fassadenlösung besonders in den Vor- dergrund schiebt und mit dem Fortschreiten der Entwicklung vor allem im späten Historismus den Fassaden eine künstlerische Selbständigkeit einge- räumt scheint, bei der die tektonischen den opti- schen Gesichtspunkten nachgeordnet sind... Der romantische Historismus hat - noch in der Tradi- tion des Klassizismus - den Baublock, dessen Aus- senhaut mit vielfältiger Ornamentik überzogen wird, anerkannt und dabei Motive verschiedener zeitlicher und örtlicher Provenienz zu einer neuen Einheit verschmolzen. Im Späthistorismus wird dann die Gestaltung des Baues fast nur von der Fassade und deren impressionistisch-malerischer Auflösung her bestimmt werden, das Flimmern der Dekoration wird sich der Atmosphäre unterwerfen, und das Körperhafte des Baues wird in der Aussen-erscheinung 
unwesentlich werden. Dem gegenüber bleibt im strengen Historismus der Baublock domi- nant, ja die schon im romantischen Historismus eingeleitete Tendenz zum Blockbau, also zum Zu- sammenschluss mehrerer Baueinheiten zu einem übergeordneten architektonischen Ganzen, wird weitergeführt und ausgebaut... Das Ornament, mit dem die Fassaden geschmückt sind, haftet (im strengen Historismus, Anm. d. Verf.) aber nicht mehr allein an der Oberfläche wie im romantischen Historismus, greift jedoch nicht so tief in den Bau ein, dass es zu Auflösungserscheinungen käme. Vielmehr erkennt auch das Ornament ebenso wie die Grundrissgestaltung und die Verteilung der Baublöcke den künstlerischen Primat des Raster- systems an.»74 SPÄTHISTORISMUS - SECESSION, ETWA 1880 RIS 1914 Die künstlerische Entwicklung bei der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist geprägt von der kon- servativen Richtung des Späthistorismus und dem Jugendstil (Secession), der diametral entgegenge- setzte Ziele zu verfolgen schien. «Bei den Anhängern des Späthistorismus handelt es sich um Künstler, die sich als Träger einer leben- digen Tradition fühlten, während die Künstler der Secession revolutionär eine neue Kunst forderten, 64) a.a.O., S. 98. 65) a.a.O., S. 98f. 66) a.a.O., S. 98. 67) a.a.O., S. 110. 68) a.a.O., S. 101. 69) a.a.O., S. 149. 70) a.a.O., S. 150. 71) a.a.O., S. 150. 72) a.a.O., S. 151. 73) Dobrawa, E.: Die Ringstrasse. In: Wien um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. F. Lettmayer. Wien, 1958, S. 347. 74) Wagner-Rieger, S. 155. 317
	        

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