Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (1991) (90)

DIE VERFASSUNG IM VORKONSTITUTIONELLEN ZEITALTER/ANDRE HOLENSTEIN Der 5. September 1718 war für die Bewohner des damaligen Fürstentums Liechtenstein ein grosser Tag.1 Sämtliche Untertanen aus den Merrschaften Vaduz und Schellenberg, und das waren zu jenem Zeitpunkt deutlich über 1000 erwachsene Männer2, erschienen im militärischen Aufzug mit ihren Land- ammännern und Gerichtsleuten an der Spitze in Vaduz. Sie waren aufgeboten worden, erstmals ge- meinsam einem Vertreter der neuen landesherrli- chen Dynastie die Huldigung zu leisten, dies, nach- dem die Fürsten von Liechtenstein in zwei Schritten Land und Leute erworben hatten - 1699 die Herr- schaft Schellenberg und 1712 die Grafschaft Vaduz. Im Frühjahr 1718 hatte die Fürstenfamilie intern in einem Tauschgeschäft die Besitzverhältnisse zwi- schen den einzelnen Linien neu geregelt und dabei Vaduz und Schellenberg dem Fürsten Anton Flori- an überlassen.3 So wie dies in allen Territorien des Reiches seit Jahrhunderten beim Herrschaftsantritt eines neuen Landesherrn üblich und erforderlich war, verlangte nun auch Anton Florian 1718 die Erbhuldigung seiner neuen Untertanen.4 Was bedeutete eine solche Erbhuldigung in politi- scher und rechtlicher Hinsicht? Welche Erwartun- gen band der neue Landesfürst an seine Forderung, die Untertanen sollten ihm Treue und Gehorsam schwören? Und diese, kamen sie nach Vaduz, um für einen rein zeremoniellen, repräsentativen Akt nicht mehr als eine präsentable Kulisse abzugeben, oder knüpften auch sie bestimmte Ansprüche an die bevorstehende Huldigung? Im folgenden sollen zuerst anhand der Ereignisse von 1718 etwas ausführlicher die einzelnen konsti- tutiven Merkmale eines Huldigungsaktes vorgeführt werden. Was sich im Herbst 1718 in Vaduz abge- spielt hat, deckt sich weitgehend mit den Beobach- tungen, die seit dem Spätmittelalter auch bei den landesherrlichen Huldigungen anderer Reichsterri- torien zu machen sind (I). Eine Untersuchung der Untertanenhuldigung erweist ihre verfassungsge- schichtliche Relevanz aber erst dann, wenn dieses Zeremoniell als prägnanter Ausdruck feudal-stän- discher Rechts-, Politik- und Herrschaftsstrukturen aufgefasst wird. In der Huldigung kamen jene wechselseitigen Pflichten, Ansprüche und Erwar-tungen 
des Flerrn und der Beherrschten zur Spra- che, deren beiderseitige Anerkennung und Bekräf- tigung überhaupt die Grundlage für die Ausübung und Durchsetzung von Herrschaft bildeten (II). Ab- schliessend soll die These von der Huldigung als «Verfassung im vorkonstitutionellen Zeitalter» be- gründet werden; es geht dabei um die Frage, inwie- fern der Huldigung Verfassungscharakter beige- messen werden kann, wenn wir davon ausgehen, dass mit der Verfassung ein Herrschaftsverband als soziale Handlungsgemeinschaft rechtlich und insti- Überarbeitotc und mit Anmerkungen versehene Fassung eines Vor- trags, den der Verfasser im November 1990 am Liechtenstein-Institut. Gamprin-Bondern. gehalten hat. 1) Die l luldigungsakte der Jahre 1699. 1712 und 1718, mit denen der Übergang der Herrschaft Schellenberg und der Grafschaft Vaduz an die Fürsten von Liechtenstein vollzogen wurde, sind in der landesge- schichtlichen Literatur wiederholt angesprochen und behandelt wor- den. Vgl. zuerst Peter Kaiser, Geschichte des Fürstenthums Liechten- stein, neu hg. v. A. Brunhart, Vaduz 1989. S. 469 ff.. 488-491 (die Seitenangaben richten sich nach der Paginierung der Neuausgabe); Albert. Schaucller. Huldigungs-Akte bei dem Uebergangder Herrschaft Schellenberg und Grafschaft Vaduz an die Fürsten von Liechtenstein, in: JBL 10 (1910), S. 5-30; Erinnerung an die 1. Huldigung der Unter- länder an das Fürstenhaus von Liechtenstein vor 250 Jahren, in: JBL 49 (1949), S. 5-31. Zur Geschichte und Funktion der Untertanenhuldi- gung im Allen Reich und in der Eidgenossenschaft vgl. neuerdings Andre liolenstein. Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800). Stuttgart-New York 1991. Die Schil- derung des Ablaufs der 1718er Huldigung ausführlich bei Schaedler. Huldigung. S. 18-27. 2) Dem Huldigungsprotokoll des Jahres 1718 wurde in Form der Musterrollen und ßürgerregister desselben Jahres ein Untertanenver- zeichnis beigelegt. Danach zählte Vaduz 570 haushäbliche Männer. Schellenberg deren 287; dazu kamen 138 bzw. 125 unverheiratete «Knaben», die als über 14jährige jedoch auch an der Huldigung zu erscheinen hatten. Vgl. die Zusammenstellung dieser Zahlen bei Schaedler. Huldigung, S. 28 f. Die Anlage von Untortanenregislcrn aus Anlaß der Huldigung war in vielen Territorien üblich; ursprünglich ein Instrument zur Überprüfung der Teilnahme an der Huldigung, wuch- sen sich die Register im 17. und 18. Jahrhundert mancherorts zu «protostatistischen» Erhebungen aus, die Auskunft über soziale und wirtschaftliche Daten des Territoriums lieferten. 3) Kaiser. Liechtenstein, S. 488. 4) Aus dem Reich datieren die frühesten Belege für die Huldigung von Bürgern und Bauern an ihre Landesherren aus dem 13. Jahrhundert. Die Landesherren nahmen damit für sich ein Recht in Anspruch, das bereits das fränkische Königtum der Morowinger und Karolinger ge- genüber den Freien praktiziert hatte. Zu den Anfängen der Huldigung im Frühmittelalter und ihrem Übergang auf die nachgeordneten Herr- schaftsträger vgl. Holenstein. Huldigung, S. 101-146. 285
	        

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