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Die Regierung erklärte in der Landtagssitzung
vom 15. November 1909 auf eine entsprechende In
terpellation hin, die Vorarbeiten für die geplante
Justizreform seien noch nicht soweit gediehen, dass
noch in diesem Jahr Gesetzesvorschläge zur Bera
tung kämen. Darauf beauftragte der Landtag eine
Kommission mit der Abklärung, ob die schon 1906
unbestrittene Einführung des Prinzips der freien
Be weis Würdigung im Strafprozess nach österrei
chischem Vorbild noch vor der Gesamtreform erfol
gen könne. Die Kommission bejahte die Frage ein
stimmig. Österreich hatte 1873, Deutschland 1870,
mit der alten Beweistheorie gebrochen, die im Straf
gesetzbuch von 1803 verankert und in Liechten
stein immer noch in Geltung war. Dieser Umstand
war auch der Rekrutierung österreichischer Richter
für den Dienst in Liechtenstein auf Grund des Justiz
vertrags mit Österreich (1884) hinderlich. Aus den
genannten Gründen wurde noch im Jahre 1909 ein
entsprechendes Gesetz verabschiedet. 137
1910 informierte die Regierung die Finanzkom
mission über den Stand der Arbeiten für ein neues
Straf- und Zivilprozesswesen. Ein Strafprozessent
wurf samt Motivenbericht lag bereits vor. Der Ver
fasser, ein Bezirksrichter und ehemaliger Staatsan
walt aus Wien, war jedoch mit den «besonderen ei
gentümlichen Verhältnissen unseres kleinen Landes
aus eigener Anschauung nicht hinreichend be
kannt», wurde im Kommissionsbericht vermerkt.
Nach dem Entwurf wäre wohl eine «beträchtliche
Vermehrung des Personalstandes zu gewärtigen.»
Im Landtag erklärte der Landesverweser, es sei
wichtig, «eigene, unseren Verhältnissen angepasste
Gesetze auszuarbeiten». Er wandte sich dagegen,
einfach eine sinngemässe Anwendung ausländi
schen Rechts zu statuieren. Der Landtag sprach sich
ebenfalls für eine selbständige Justizpflege aus und
nahm die damit verbundene Verzögerung der Jus
tizreform in Kauf. 138
Gesetzesentwürfe von Gustav Walker,
Wien, im Landtag
1911 übermittelte die Regierung dem Landtag drei
vom Sektionsrat des k. k. Justizministeriums und
ehemaligen Universitätsprofessor Gustav Walker
verfasste Gesetzentwürfe samt Motivenberichten
zur Reform des Zivilprozesses zur verfassungsmäs
sigen Behandlung. 139 Die Entwürfe waren im Bei
sein des Verfassers von den Mitgliedern des fürstli
chen Appellationsgerichts, dem Landesverweser
und dem Chef der fürstlichen Hofkanzlei bereits be
raten und teilweise abgeändert worden. 140 In der
Landtagssitzung vom 11. Dezember 1911 referierte
Albert Schädler über die Regierungsvorlage und das
Ergebnis der Vorberatung durch die zuständige
Landtagskommission. Er hob dabei besonders die
Erläuterungen der Regierungsvorlage zur Frage der
Errichtung einer zweiten Gerichtsinstanz im Lande
selbst hervor. Eine solche Instanz war nämlich in
der Vorlage nicht mehr enthalten. Die bisherige Be
rufungsinstanz, das Appellationsgericht in Wien,
sollte beibehalten werden. Nach Ansicht des Verfas
sers hätte eine Wiederholung des mündlichen Ver
fahrens nur für eine geringe Zahl von Fällen Wert.
Die Einheit und Kontinuität der Rechtsprechung
würde leiden, wenn an Stelle des Appellationsge
richts fallweise bald diese, bald jene österrei
chischen Richter träten. Schliesslich bedingte die
Schaffung einer zweiten Instanz im Lande die Ände
rung des Justizvertrags von 1884. Der Vertrag
müsste gekündigt und ein neuer Vertrag geschlos
sen werden. Eine solche Änderung sei fraglich, je
denfalls aber in absehbarer Zeit kaum erreichbar.
Die Landtagskommission wollte schon im frühen
Stadium die sich zeigenden Schwierigkeiten nach
allen Seiten offen und klar darlegen. Sie beantragte,
eine Siebnerkommission zu wählen, die sich mit der
Gesetzesmaterie eingehend befassen, dem Landtag
berichten und Anträge stellen sollte. 141 Der Landtag
nahm den dargelegten Stand der Zivilprozessre
form zur Kenntnis und folgte einhellig dem Kom
missionsantrag.
Zweite Instanz in Liechtenstein?
Ein Jahr später hatte die Landtagskommission ihre
Arbeit abgeschlossen. Ihr Bericht und die Gesetzes
entwürfe zur Reform der Zivilprozessordnung wur
den im Landtag beraten. Die Kommission hatte in
mehreren Sitzungen eine Reihe von Abänderungs
vorschlägen gemacht und diese im Beisein des Ver-