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Verfahrens fehlte. Das Prinzip der Gewaltentren
nung war in Bezug auf Verwaltung und Rechtspre
chung nur unzureichend durchgeführt.
Mit Verordnung vom 30. Mai 1871 86 wurden die
bisher dem Landgericht zugewiesenen politischen
Amtsgeschäfte der Regierung übertragen und so
das Prinzip der Gewaltentrennung verwirklicht. An
stelle der Hofkanzlei wurde das fürstliche Appellati
onsgericht in Wien als zweite Gerichtsinstanz be
stimmt. 87 Es setzte sich aus drei vom Fürsten er
nannten geprüften Richtern zusammen. Gegen Ent
scheidungen der Regierung wurde zudem Berufung
an die neue geschaffene politische Rekursinstanz in
Wien ermöglicht. Sie bestand ebenfalls aus drei vom
Fürsten ernannten Mitgliedern mit absolvierten «ju
ridisch-politischen Studien». 88 Seit 1904 konnte der
Fürst auch mehr als drei Mitglieder für das Appella
tionsgericht und die Rekursinstanz ernennen. 89
Mit der Schaffung des Landgerichts und einer
Landrichterstelle 1862 war in Liechtenstein der
Übergang zum Berufsrichtertum endgültig vollzo
gen. Zwar waren schon die Landvögte und Landes
verweser, die bisher die Gerichtsbarkeit in erster In
stanz ausgeübt hatten, juristisch ausgebildet. Ihnen
oblagen jedoch wesentlich auch Regierungs- und
Verwaltungsaufgaben. Der Landrichter war nun der
erste beamtete Richter. Das Amt bedingte absolvier
te juristische Studien, sowie «die in Österreich mit
gutem Erfolge zurückgelegten praktischen Staats
und Richteramtsprüfungen». 90 Eine Laienbeteili
gung an der Rechtsprechung war in der ganzen kon
stitutionellen Neuordnung nicht vorgesehen.
1865 brachte das neue Schuldentriebsgesetz mit
der Einführung von beeidigten Schätzmännern ei
nen bescheidenen Einbezug des Volkes in einem
Randbereich des Gerichtswesens. Eine Pfändung
hatte unter Zuzug eines Schätzmanns zu erfolgen,
der in jeder Gemeinde vom Gemeinderat aus seiner
Mitte gewählt und vom Landgericht vereidigt wur
de. 91
DIE REFORM DER LIECHTENSTEINISCHEN
STRAFRECHTSPFLEGE 1881 92
1874 trat in Österreich eine neue Strafprozessord
nung in Kraft. Sie enthielt grundsätzliche Anpassun
gen an die zeitgenössischen Rechtsanschauungen
und verankerte mit der Wiedereinführung des Ge
schworeneninstituts die Laienbeteiligung an der Ge
richtsbarkeit. 93 Dies war wohl der Anlass für einen
entsprechenden Vorstoss der liechtensteinischen
Volksvertretung. «In Erwägung, dass im Fürsten
tum Liechtenstein noch das geheime inquisitorische
Strafverfahren vom Jahre 1803 gilt, und dass in al
len deutschen Staaten und in Österreich das öffentli
che und mündliche Verfahren eingeführt ist», er
suchte sie die Regierung einhellig, «dem nächsten
Landtag einen Gesetzesentwurf über das Einführen
des öffentlichen und mündlichen Strafverfahrens
vorzulegen». 94
1879 hatte der Landesverweser einen ersten Ge
setzesentwurf ausgearbeitet und schickte ihn an das
fürstliche Appellationsgericht zur Prüfung. Im Be
gleitschreiben schilderte er die Ausgangslage für
das Gesetzesvorhaben und die Art seiner Erledi
gung 95 Es sollte die Wünsche der Landesvertretung
um Einführung der Öffentlichkeit, Zulassung eines
Verteidigers für den Angeklagten und Erweiterung
des Rekursrechtes erfüllen und «durch Adaptierung
den einschlägigen Bestimmungen der österrei
chischen Strafprozessordnung von 1853 entspre
chen, im übrigen aber das im Strafgesetz vom Jahre
1803 vorgezeichnete rechtliche Verfahren über Ver
brechen und Übertretungen auch weiterhin in Kraft
bestehen lassen». Eine schwierige Arbeit. Das Straf
verfahren sollte folgendermassen geregelt werden:
Bei Verbrechen und Vergehen wird die Untersu
chung durch das Landgericht eingeleitet und durch
geführt. Nach geschlossener Untersuchung gehen
die Akten an den Strafgerichtshof, «bestehend aus
drei dem österreichischen Richterstand angehöri-
gen Mitgliedern mit Ausschluss der bisherigen zwei
ungeprüften Beisitzer» 96 , der an einer in Vaduz ab
zuhaltenden Sitzung den Anklagebeschluss zu fas
sen hat. Bei der mündlichen und öffentlichen
Schlussverhandlung fungiert der Gerichtshof wie-