GESCHICHTE DES LAIENRICHTERTUMS IN
LIECHTENSTEIN / ALOIS OSPELT
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Amtszimmer nach und nach zur dominierenden Ge
richtsform, schliesslich zur ständigen Behörde des
entstehenden Staates. An den Verhörtagen war das
Volk zwar durch die von ihm gewählten Landam
männer vertreten. Das Gerichtsverfahren jedoch
war vorwiegend schriftlich und blieb der Öffentlich
keit verborgen. Es galten die Regeln des Inquisi
tionsprozesses. 46 Ein eindrucksvolles Bild vom
Rechtsleben jener Zeit liefern die Hexenprozesse. 47
Aufschlussreiche Einblicke in die Gerichtspraxis
des späten 18. Jahrhunderts gewährt der Strafpro
zess gegen die 1785 hingerichtete Vagantin Barbara
Erni, genannt die goldene Boos. Sie sass neun Mo
nate auf Schloss Vaduz in Haft und wurde dort ver
hört. Die Vaduzer Behörden führten ein nach jener
Zeit ordnungsgemässes Gerichtsverfahren durch.
Sie stellten Nachforschungen an, luden Zeugen vor,
hielten die Ergebnisse in Akten fest und schickten
sie an einen Rechtsgelehrten (Aktenversendung).
Dieser erstellte ein Gutachten, ein so genanntes
Consilium, einen Ratschlag. Das Gutachten war für
das örtliche Gericht zwar rechtlich nicht bindend,
kam faktisch jedoch einem Urteil gleich. Der Prozess
war ein reines Aktenverfahren. Die Angeklagte hat
te keine Möglichkeit zu Verteidigung oder Berufung.
Landammann und Gerichtsleute hatten keinen be
stimmenden Einfluss auf das Verfahren. Sie wahr
ten lediglich bei der Hinrichtung die alten Formali
täten des Malefizgerichts. 48
Auch bei den Ende des 18. Jahrhunderts zwi
schen den Gemeinden und zwischen den einzelnen
Gemeindegenossen geführten jahrelangen Prozes
sen um Aufteilung des Gemeinbesitzes war das
Landammanngericht ausgeschlossen. Es war seit
1733 als Frevelgericht auf einen kleineren Teil der
niederen Gerichtsbarkeit beschränkt. Eine ent
scheidende Rolle bei diesen Zivilprozessen spielten
hingegen Schiedsgerichte. Die Schiedsrichter wur
den meist aus einer unbeteiligten anderen Gemein
de oder Landschaft, manchmal aus dem benachbar
ten Ausland geholt. Letztlich konnten aber auch sol
che Prozesse durch eingeholte Rechtsgutachten ent
schieden werden. So wurde 1799 der Streit zwi
schen den Gemeinden Schaan und Vaduz um die
Aufteilung des Gemeindegebiets auf Grund der ein
gesandten Akten durch ein Rechtsgutachten der ju
ristischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br.
endgültig entschieden. 49
DAS GERICHTSWESEN IM SPÄT
ABSOLUTISMUS. 1808 BIS 1848/1862 50
Nachdem durch die Rheinischen Bundesakte vom
12. Juli 1806 die Reichsverfassung aufgehoben wor
den war, verloren Gesetze und Institutionen, soweit
sie mit dem alten Reich zusammenhingen, ihre Gül
tigkeit. Die Fürsten von Liechtenstein konnten dem
nach auch das Gerichtswesen rechtlich unabhängig
von jeder fremden Macht und selbständig neu re
geln. Die fürstlichen Dienstinstruktionen vom 7. Ok
tober 1808 51 lieferten dem Landvogt die rechtliche
Grundlage und entsprechende Anweisungen zur
völligen Umgestaltung der politischen Verhältnisse
in Liechtenstein. Der gesamte alte Rechtsbestand
und das im Landsbrauch umschriebene Gewohn
heitsrecht wurden auf den 1. Januar 1809 aufgeho
ben. Der Landvogt hatte den Auftrag, «als Grundge
setz der Landesverfassung» u. a. eine neue Jurisdik-
46) Vgl. dazu oben, S. 30 f.
47) Zu den Hexenprozessen vgl: Seger, Otto: Der letzte Akt im
Drama der Hexenprozesse in der Grafschaft Vaduz und Herrschaft
Schellenberg. In: JBL 57 (1957), S. 135-227; derselbe: Aus der Zeit
der Hexenverfolgungen. In: JBL 59 (1959), S. 329-349; derselbe:
Hexenprozesse in Liechtenstein und Putzer, Peter: Das Salzburger
Rechtsgutachten von 1682, Wien 1987. (Schriften des Instituts für
Historische Kriminologie; Bd. 2); Tschaikner, Manfred: Der Teufel
und die Hexen müssen aus dem Land ... : frühneuzeitliche Hexenver
folgungen in Liechtenstein. In: JBL 96 (1998), S. 1-197; derselbe: Die
Vaduzer Hexenprozesse am Ende des 16. Jahrhunderts. In: JBL 101
(2002), S. 147-152.
48) Vgl. dazu: Das Rechtsgutachten Hensler zum Fall der Barbara
Erni, genannt die Goldene Boos. In: Veröffentlichungen des Liechten
steinischen Landesarchivs, 2, Vaduz, 2003, S. 65-100.
49) Vgl. dazu: Ospelt, Alois: 200 Jahre Gemeindegrenzen Schaan-
Vaduz-Planken. In: JBL 98 (1999), S. 1-40.
50) Zu diesem Abschnitt vgl. Malin; Quaderer; Geiger; Ospelt,
S. 233-236; Vogt.
51) Dienstinstruktionen für Landvogt Josef Schuppler vom 7. Okto
ber 1808 (Textedition. In: Liechtenstein Politische Schriften, Heft 8,
Verfassungstexte 1808-1918, S. 247-258).