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Von einer Makroperspektive ausgehend, wirft Al
termatt in einem einleitenden Kapitel (Kapitel II) zu
erst einen transnationalen Blick auf Religionen und
im Besonderen den Katholizismen in Europa im 19.
und 20. Jahrhundert, welchen er in Kapitel III als
profunden Kenner des Schweizer Katholizismus am
schweizerischen Beispiel konkretisiert. Auf eine Mi
kroperspektive übergehend, hebt Altermatt dann in
Kapitel IV verschiedene Bereiche und Beispiele von
Erinnerungs- und Geschichtspolitik(en) im Natio
nalstaat Schweiz hervor. Seine Fragen zum Verhält
nis von Religion und Nation aus geschichtspoliti
scher, aber auch kulturgeschichtlicher Perspektive,
führt Altermatt schliesslich in einem längeren
Schlusskapitel mit Thesen zum Erosionsprozess von
Nation und katholischer Sondergesellschaft an
schaulich zusammen.
Anhand des Beispiels Tessin weist der Freiburger
Historiker in seiner transnationalen Perspektive auf
die europäischen Katholizismen darauf hin, dass
nicht alle sprachlichen und konfessionellen Minder
heitenstellungen innerhalb Europas zu Separati
onswünschen der betreffenden Minderheiten von
der grossen Mehrheit führen mussten oder müssen.
Er führt dies auf eine aussergewöhnliche Konstella
tion der beiden Faktoren Religion und Nation zu
rück. Der italienischsprachige und katholische Kan
ton Tessin verspürte nie den Wunsch nach einem
Anschluss an Italien und einer damit verbundenen
Loslösung von der mehrheitlich deutschsprachigen
und überwiegend protestantischen Schweiz. Dies
deshalb, so Altermatt, weil weltanschauliche Kon
flikte zwischen den konservativen Katholiken und
den antiklerikalen Liberalen, die innerhalb des Kan
tons Tessin stattfanden, gleichzeitig den nationalen
Zusammenhalt mit Gleichgesinnten über die Kan
tonsgrenzen hinaus stärkten. Dabei wurde, so die
These Altermatts, die italienischsprachige Minder
heit über religiös-politische Loyalitäten in den schwei
zerischen Nationalstaat integriert. Damit konsta
tiert er für die Schweiz ein Gegenbeispiel zur allge
meinen europäischen Entwicklung und verweist da
bei auf Fälle wie beispielsweise das Südtirol oder
Transsilvanien.
Den schon im Buch «Katholizismus und Moder
ne» im Jahr 1989 festgestellten Wandel von Menta
litätsstrukturen innerhalb des schweizerischen Ka
tholizismus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
greift Altermatt unter anderem in seinem Kapitel
zur katholischen Geschichtsschreibung und Ge
schichtskulten nochmals anhand herausragender
Ereignisse auf. Die Entfremdung breiter Bevölke
rungsschichten von der institutionellen Kirche und
von Rom erklärt er nicht nur mit einem allgemein
stattfmdenden gesellschaftlichen Mentalitätswan-
del. Einen zunehmenden «antirömischen Affekt»
(S. 227) im Zuge des allgemein stattfindenden Men
talitätswandels veranschaulicht er anhand ausge
wählter Beispiele wie der Hochhuth-Debatte in den
1960er Jahren oder im für Liechtenstein besonders
relevanten Kapitel zur «Haas-Affäre» (S. 251-254).
Die Ernennung von Wolfgang Haas zum Weihbi
schof von Chur im Frühling des Jahres 1988 und die
damit nach Experten durch den amtierenden Papst
Johannes Paul II. erfolgte Verletzung des Völker
rechts, indem «innerkirchlich relevante Zusiche
rungen nicht eingehalten und Verfahrensregeln
missachtet» (S. 251) wurden, beschreibt Altermatt
als gesellschaftliche «kirchenpolitische Protestwel
le» (S. 251), wie sie die Schweiz seit dem Kultur
kampf im 19. Jahrhundert nicht mehr erlebt habe.
Bezeichnet Altermatt die Debatten um Stephan
Pfürtner und Hans Küng noch als hauptsächlich eli
täres Phänomen, vermerkt er für den Fall Haas die
Erfassung der breiten Massen von dieser rom-kriti
schen Haltung, welche die «Entfremdung weiter Ka
tholikenkreise von der Kirche als Institution und da
mit vom Papst» (S. 253) förderte.
Der Historiker Urs Altermatt beschreibt in sei
nem Buch auf anschauliche und mit zahlreichen
Beispielen unterlegte Art und Weise das enge Bezie
hungsgeflecht von Religion und Nation. Er durch
leuchtet dabei religiöse und nationale Identifikati
onsfaktoren, wobei er im Schlusskapitel feststellt,
wie sich nicht nur religiöse Identifikationsformen
im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu modifizie
ren und aufzulösen begannen, sondern mit einer zu
nehmenden Individualisierung und Pluralisierung
der Gesellschaft auch eine gleichzeitige Erosion na-