Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2009) (108)

DIE GRENZREGION GRAUBÜNDEN AM ENDE DES ERSTEN WELTKRIEGS / MARTIN BUNDI turellem Gebiet zu spüren. Die hermetische Bewa- chung und Absperrung dieser Grenze seit 1915 un- terband plötzlich die Kontakte zu den Nachbarn im Süden und Osten. Dies empfanden am meisten die italienischsprachigen Bündner Südtäler. Diese, weit vom Regierungszentrum entfernt gelegen, hatten schon bisher Mühe, sich in die kantonale Politik ge- nügend zu integrieren. Das Misoxertal zum Beispiel hatte im 19. Jahrhundert grosse Sympathien für ei- nen Anschluss an den Kanton Tessin bekundet; nicht zuletzt aus diesem Grunde hatte es 1848 zur neuen Bundesverfassung von 1848 Nein gesagt. Das Puschlav anderseits wurde 1914 abrupt in seinen traditionell freundnachbarlichen, vor allem wirt- schaftlichen, Beziehungen zum Veltlin einge- schränkt und befand sich in der Folge in einer stark isolierten Stellung. Zudem empfanden es die meis- ten Schüler aus den Valli, die ihre Mittelschul- ausbildung im fernen Chur absolvieren mussten, als ungerecht, dass sie dort dem Unterricht fast ganz auf Deutsch folgen mussten. Unter diesen Umstän- den gründete eine Gruppe von Italienischbündnern am 11. Februar 1918 eine kantonale Vereinigung zur Stärkung des italienischen Elements im Kanton, die den 
Namen «Pro Grigioni Italiano» erhielt. Hauptpromotor derselben war der aus dem Misox stammende und an der Kantonsschule in Chur leh- rende Professor Arnoldo M. Zendralli (1887-1961); Zendralli gehörte auch zu den Gründern der Demo- kratischen Partei Graubünden. Seine Feststellung, dass «wir im täglichen Leben keine Kontakte mit dem Rest des Kantons haben, und so sind wir im Kanton Ausländer» mochte etwas übertrieben ge- wesen sein. Sie traf aber den Kern des Problems. Die Statuten der neuen Vereinigung hatten zum Ziel: 1. Eine Verbesserung der Kontakte und der Verbun- denheit der Valli unter sich und innerhalb des Kan- tons. 2. Einen stärkeren Beitrag der Kultur der Süd- täler an den Kanton. 3. Bessere Lebensbedingungen für die Bewohner der vier peripheren italienisch- sprachigen Regionen. Im Sinne dieser damaligen Statuten operiert die Pro Grigione Italiano heute noch.13 Auch die andere Sprachminderheit des Kantons, die 
der Rätoromanen, welche hundert Jahre früher 
noch die Mehrheitssprache des Kantons gebildet hatte, verspürte in jenen Kriegsjahren ein grosses Unbehagen. Sie fühlte sich im Gebrauch ihrer Spra- che von der deutschen Mehrheit in die Ecke ge- drängt, in der Pflege ihrer Muttersprache von den Behörden vernachlässigt. Zudem empfand man auch schon - wie die Valli - eine aufkommende Be- drohung von Süden her, wo der italienische Irre- dentismus («terra irredenta» heisst soviel wie: un- erlöstes Land; Bewegung zur Eingliederung von einst von Italien getrennten Gebieten) imperia- listische Forderungen in Richtung Alpenkamm zu verbreiten begann. Unter der Initiative von Giachen Conrad aus Andeer (Schams), Postkreisdirektor in Chur, kam es am 26. Oktober 1919 zur Gründung der «Lia Rumantscha» (LR), der Dachvereinigung der schon bestehenden regionalen oder speziellen Sprachorganisationen. Als solche bestanden da- mals: Als älteste die Societä Retorumantscha (eine wissenschaftliche Vereinigung, welche die Zeit- schrift «Annalas» herausgab und -gibt), die Roma- nia (Surselva), die Uniun dals Grischs (Engadin), der Verein der Romanen in Chur und die Uniun ruman- tscha da Schons (Schamsertal). Das Ziel der Dach- vereinigung war die Sammlung und Konzentration der Kräfte; Massnahmen in die Wege zu leiten, um den weiteren Rückgang der Sprache zu verhindern - noch 40 000 Bündner gaben das Rätoromanische als ihre Muttersprache an; die Öffentlichkeit und die Behörden für den Erhalt der ältesten Sprache der Schweiz zu sensibilisieren und deren Unterstützung zu erhalten. In der Neuen Bündner Zeitung vom 16. April 1919 erliess Giachen Conrad (1883-1956), der erste Präsident der LR, einen flammenden Aufruf zur Ret- tung des Romanentums. Dieses war und ist heute wieder besonders in seinem Heimattal Schams sehr 12) Metz, Geschichte des Kantons (wie Anm. 3), Sammlung der Frauen: S. 40. - Quellen, funtaunas. fonti: Schenkung für die Errich- tung des Frauenspitals Fontana: S. 256: Hebammenstreik: S. 266. 13) Metz, Geschichte des Kantons (wie Anm. 3), Rätoromanische Selbstbesinnung: S. 84. - Quellen, funtaunas. fonti: Gründung der Pro Grigione Italiano, S. 263; erste Eingabe der «Lia Rumantscha» 1919. S. 268. 123
	        

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