Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2009) (108)

DIE GRENZREGION GRAUBÜNDEN AM ENDE DES ERSTEN WELTKRIEGS / MARTIN BUNDI sinnigen, bei denen sich ihre bisherige Mehrheit von 101 Sitzen auf 61 reduzierte. In Graubünden waren 1918/1919 vorüberge- hend in der 1906 
gegründeten Sozialdemokrati- schen Partei die Grütlianer - Sozialdemokraten mit starkem Bezug zum schweizerisch-demokratischen Herkommen - in die Minderheit geraten und die marxistisch orientierten Sozialisten unter der Füh- rung von Grossrat Christian Hitz-Bay tonangebend geworden; diese plädierten auch für den Anschluss an die Dritte Internationale. Die Churer Stadtpartei lehnte aber im August 1919 einen solchen Beitritt ab. Die schweizerische Sozialdemokratische Partei verwarf einen Anschluss an die Dritte Internationa- le in einer Urabstimmung im September 1919 deut- lich. Bei den Nationalratswahlen vom Oktober 1919 gewannen die Bündner Sozialdemokraten erstmals ein Mandat, interessanterweise aber mit dem ge- mässigten zweitplazierten Kandidaten Hans Meng; der erstgesetzte Christian Hitz-Bay übersiedelte in der Folgenach Zürich, wo er 1922 als Kommunist in den Nationalrat gewählt wurde.10 Der Wahlerfolg der Sozialdemokraten in Grau- bünden war grösstenteils auf Kosten der Freisin- nigen erfolgt. Auf deren Kosten ging auch eine Ab- spaltung in den eigenen Reihen, die zur Gründung der Demokratischen Partei Graubünden führte. Schon 1890 hatte sich in Chur ein «Radikal-demo- kratischer Verein» gebildet, der sich als linker Flügel der Freisinnigen verstand und sozialpolitische Pos- tulate vertrat. Zwischen 1915 und 1918 formierte sich innerhalb der Freisinnigen eine Jungfreisinni- ge Gruppe, die bei den Nationalratswahlen von 1919 eines der vier freisinnigen Mandate für sich forderte, was die Mutterpartei jedoch ablehnte. Ja diese lehnte gar eine Listenverbindung mit den Jungfreisinnigen ab und ging dafür eine solche mit den Konservativen ein zwecks Verhinderung eines sozialdemokratischen Erfolgs. Das Resultat war, dass die Freisinnigen ein Mandat verloren und die Jungfreisinnigen leer ausgingen. Als Reaktion da- rauf gründeten die Jungfreisinnigen am 8. Dezem- ber 1919 die sogenannte «Demokratische Bewe- gung», die sich seit 1935 «Demokratische Volks- partei Graubünden» (DPG) nannte. Ihr Parteiblatt 
wurde die «Neue Bündner Zeitung». Die Demokra- tische Bewegung wurde von der freisinnigen und von der konservativen Partei als sozialistische Gruppierung bekämpft.11 Promotoren dieser neuen Bewegung waren Felix Koch von Tamins, Dr. Andreas Kuoni (Maienfeld), Redaktor Hans Enderlin (Maienfeld), Corrado Tug- nun (Paspels) und später Dr. Andreas Gadient (Klos- ters), der sich 1925 bei den Nationalratswahlen das erste Bündner Mandat der Demokratischen Partei sicherte. Der Freisinn hatte von 1917 bis 1925 zwei seiner früheren vier Sitze verloren (je einen an die Sozialdemokraten und an die Demokraten). Die De- mokratische Partei Graubünden vertrat damals in erster Linie die politischen Interessen der Berg- und Kleinbauern sowie von Handwerkern und Gewerbe- treibenden, einen ausgeprägten Linkskurs. Die Erfolge der beiden genannten politischen Parteien, einer Minderheitspartei und einer neuge- gründeten Partei, nach Kriegsende hatten beide mit den sozialen Bedingungen der Bevölkerung wäh- rend des Krieges zu tun: Die Arbeiterschaft hatte in jenen Jahren schwere Existenzsorgen gehabt, und die Bauern und Kleinhandwerker fühlten sich von den traditionellen bürgerlichen Parteien (Freisin- nige und Konservative) in ihren Anliegen nicht ge- nügend vertreten. 8) Caratsch, Reto: Felix Calonder. In: Bedeutende Bündner aus fünf Jahrhunderten, S. 17. 9) Metz, Geschichte des Kantons (wie Anm. 3), S. 73 f. - Witzig, Daniel: Die Vorarlberger Frage. Basel, 1974. - Die konfessionellen Bedenken waren u. a. geprägt von der Angst vor einem Übergewicht des katholischen Volksteils und dem Wirken der berühmten Jesui- tenschule in Feldkirch. 10) Bundi, Martin: Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie in Graubünden. S. 42 und 58. 11) Schmid, Hansmartin: «Nichts mehr von dahinten - davorn!», S. 127 f. 121
	        

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