Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

ECKDATEN ZUM WIRTSCHAFTSWUNDER LIECHTENSTEIN Die Wirtschaft des Fürstentums Liechtenstein mo- dernisierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in ei- nem atemberaubenden Tempo. Aus dem armen Ländchen wurde in wenigen Jahrzehnten ein pros- perierender Mikrostaat. Noch in den 1920er Jah- ren war die Wertschöpfung Liechtensteins pro Kopf der Bevölkerung rund 30 Prozent niedriger als im Nachbarland Schweiz. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre verwandelte sich dieser Rückstand in einen Vorsprung. Im Jahr 2000 war die liechten- steinische Arbeitsproduktivität 40 Prozent höher als die im internationalen Vergleich ebenfalls he- rausragende schweizerische. Bis in die Zwischen- kriegszeit hinein mussten arme Liechtensteiner im Ausland Arbeit suchen. Mittlerweile ist die Situati- on umgekehrt. Als regionaler Wachstumspol zieht Liechtenstein viele Arbeitskräfte aus der Umge- bung an. Das Land zählt 29 000 Arbeitsplätze, also annähernd so viele Arbeitsplätze wie Einwohner (34 000). Bei der Arbeit sind die Einheimischen in der Minderheit. Zwei von drei Arbeitskräften besit- zen einen ausländischen Pass. Die meisten dieser Ausländer pendeln Tag für Tag aus den beiden Nachbarstaaten Schweiz und Österreich zu.1 Der liechtensteinische Staat, der nach dem Ersten Welt- krieg vor dem Konkurs stand, ist heute schulden- frei. Er verfügt sogar über ein beachtliches Polster, um das ihn viele Finanzminister beneiden würden. Das phänomenale Wirtschaftswachstum ging Hand in Hand mit einem grundlegenden Umbau der Wirtschaftsstruktur. Die Landwirtschaft, welche die liechtensteinische Wirtschaft bis in die 1930er Jah- re geprägt hatte, wurde zu einem Randphänomen. An ihre Stelle traten zwei andere Sektoren: die In- dustrie und der Finanzdienstleistungssektor. Auf die Industrie und das warenproduzierende Gewer- be entfallen heutzutage 45 Prozent aller Arbeits- plätze.2 In dem weit bekannteren Finanzdienstleis- tungssektor (Banken, Treuhänder, Versicherungen) finden nur etwa 15 Prozent aller Erwerbstätigen Arbeit. Diese vergleichsweise wenigen Beschäf- tigten sind aber ungemein produktiv. Sie erwirt-schaften 
rund ein Drittel der gesamten Wertschöp- fung Liechtensteins.3 Der «Finanzplatz»4 wurde zwar erst in den 1960er Jahren richtig beschäfti- gungswirksam, doch schon in der Zwischenkriegs- zeit hatte er eine für das Land zentrale Bedeutung. Bereits in den 1930er Jahren stammten 25 bis 30 Prozent aller Landeseinnahmen aus jenen Steuern, welche ausländische Anleger und die von ihnen be- herrschten Sitzunternehmen entrichteten. DIE BEIDEN TRÜMPFE LIECHTENSTEINS: DAS OUTSOURCING... Ein kleiner Staat, geschweige ein Kleinststaat wie Liechtenstein, muss verschiedene Nachteile in Kauf nehmen, die seine Prosperität in Frage stellen.5 Weil die eigene Wirtschaft über praktisch keinen Heimmarkt verfügt, ist sie zum Export gezwungen. Wirtschaftliche Erschütterungen, die von aussen kommen, können deshalb nicht intern abgefedert werden. Das Gesetz der steigenden Skalenerträge benachteiligt den sehr kleinen Staat: Er muss grundsätzlich für die gleichen staatlichen Leistun- gen aufkommen wie sein grosser Nachbar; doch weil er dies nur für wenige Steuerzahler tut, ist der Preis für die Bereitstellung dieser öffentlichen Gü- ter vergleichsweise hoch. Diese theoretischen Über- legungen sprechen dafür, dass ein Kleinstaat öko- nomisch benachteiligt und eher auf der Verlierer- statt auf der Gewinnerseite zu finden ist. In Tat und Wahrheit ist genau das Gegenteil der Fall. Klein- bzw. Kleinst- oder Mikrostaaten6 wie Liechtenstein, Luxemburg und Island gehören heutzutage zu den ökonomisch erfolgreichsten Staaten überhaupt.7 Es gibt vor allem8 zwei Gründe, welche dieses schein- bare Paradoxon erklären können: 
das Outsourcing öffentlicher Güter und die Kommerzialisierung der Souveränität. Das Fürstentum Liechtenstein hat keine eigene Währung, es unterhält keine Armee, es betreibt keine Fluglinie und kein Bahnnetz, es besitzt keine eigene Müllverbrennungsanlage und es verfügt auch nicht über eine Universität im vollen Sinne des Wortes. Gleichwohl ist seine monetäre Stabi- 82
	        

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