Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

vierende Neuerungen brachte in erster Linie das Ehegesetz von 1974, das an die Stelle des «altöster- reichischen Eherechts» des ABGB trat und bei dem es sich im wesentlichen um eine Kompilation von schweizerischen und österreichischen Rechtsvor- schriften handelte. Die eindrücklichsten und seit langem überfälligen Neuerungen bestanden in der Einführung der obligatorischen Zivilehe sowie in der Zulassung der Ehescheidung, die bis dahin in Liechtenstein für Katholiken ausgeschlossen gewe- sen war.49 Bei dieser Reform war es vorrangig um ein zeitgemässes Ehetrennungs- und Eheschei- dungsrecht gegangen, während die Reform des übrigen Familienrechts einem separaten Reform- schritt vorbehalten blieb. Dieser Hess allerdings noch geraume Zeit auf sich warten: Eine grundle- gende Reform des Ehe- und Familienrechts erfolgte in Liechtenstein erst 199350 und 199951, nach auf- wendigen Vorarbeiten unter Berücksichtigung der Familienrechtsreformen in Österreich und der Schweiz. Bei der Entscheidung, welche Rechtsnormen als Rezeptionsgrundlage dienen sollten, wurde im Rah- men der Justizrechtsreform in erster Linie auf die Rechtstradition und die Rechtskontinuität geachtet. Für das liechtensteinische ABGB bedeutete das, dass es weitestgehend nach dem Vorbild der öster- reichischen Zivilrechtskodifikation erneuert wurde. In jenen Bereichen aber, wo man sich schon bisher am schweizerischen Recht orientiert hatte oder wo sich aufgrund der zollvertraglichen Bindungen eine Anlehnung an das schweizerische Recht empfahl, nahm man sich dieses zum Vorbild, so im Mieter- schutzrecht oder im Arbeitsvertragsrecht. Dieser Vorgangsweise blieb man auch bei der Reform des Ehe- und Familienrechts treu. Neben der Bewah- rung der Rechtstradition und der Rechtskontinuität ging es bei der Erneuerung des Justizrechts aber auch immer darum, die für liechtensteinische Ver- hältnisse jeweils beste und zweckmässigste Lösung zu finden. Wenn es sich daher als notwendig erwies, kombinierte man innerhalb einer Rechtsmaterie Bestimmungen aus dem österreichischen und dem schweizerischen Recht, so zum Beispiel im Vormund- schaftsrecht oder im Eherecht. Wenn weder die eine 
noch die andere Rechtsordnung für liechtensteini- sche Bedürfnisse passend erschien, wurden eigen- ständige Lösungen geschaffen. Das erwies sich vor allem im Eherecht als notwendig, wo weder das österreichische noch das schweizerische Recht mit der katholisch-konservativen Grundhaltung der Be- völkerung und des Fürstenhauses vereinbar war.52 Dieser Entwicklung zufolge präsentiert sich das liechtensteinische Zivilrecht heute als «Misch- rechtsordnung», die sich teils aus österreichischem, teils aus schweizerischem Recht zusammensetzt, ergänzt um adaptiertes sowie eigenständiges liech- tensteinisches Recht. Seit dem Beitritt Liechten- steins zum Europäischen Wirtschaftsraum 199553 kam als weitere Rezeptionsgrundlage das EWR- Recht hinzu, was im Privatrecht zu einer Intensivie- rung der legislativen Aktivitäten in Hinblick auf die Erfüllung europarechtlicher Vorgaben führte.54 RECHTSREZEPTION UND SOUVERÄNITÄT IM WIDERSPRUCH? Lässt man die Rezeptionsgeschichte im liechtenstei- nischen Privatrecht der letzten bald zwei Jahrhun- derte Revue passieren, so sind verschiedene For- men der Rechtsrezeption erkennbar: Die automati- sche Rezeption österreichischen Rechts, wie sie 1812 eingeleitet und zwischen 1819 und 1842 prak- tiziert wurde, gewährleistete in Verbindung mit ei- nem gemeinsamen Höchstgericht die Übereinstim- mung mit der Weiterentwicklung des Ursprungs- rechts. Damit waren viele Vorteile verbunden wie zum Beispiel die uneingeschränkte Verwendbarkeit von Gesetzesausgaben, Literatur und Rechtspre- chung. Als 1843 die autonome Rezeption die auto- matische Rechtsübernahme ablöste, wurde zwar weiterhin an der Übernahme österreichischen Rechts festgehalten, diese erfolgte aber nun in Form von eigenständigen liechtensteinischen Gesetzen mit inhaltlichen Modifikationen der Rezeptionsvor- lage, wenn es die liechtensteinischen Verhältnisse erforderlich machten. Da die Rezeption häufig mit beträchtlicher Verzögerung erfolgte, waren die da- mit verbundenen Vorteile nur mehr eingeschränkt 42
	        

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