Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

ZWEIHUNDERT JAHRE Sind meine Vorfahren - die Kleinbauern, Köhler, Sennen, Schneiderinnen, Metzger, 
Fuhrmänner, Fa- hrig gierinnen, Haushaltsmägde und Verdingbuben - seit zweihundert Jahren souverän? Je nach Definition der Souveränität setzt ihre zumindest Halbsouveränität zum Beispiel erst 1921 mit einer Verfassung ein, die die von ihnen gewählten Landtagsabgeordneten zum gesetzge- benden Organ im Staat macht: Das sind achtund- fünfzig Jahre einer halben Souveränität. Für die Frauen unter ihnen beginnt das erst 1984. Das sind nur zweiundzwanzig Jahre einer halben Sou- veränität. DER 12. JULI 1806 Der Tag, an dem der damalige Fürst von Liechten- stein Johann I. die Rheinbundakte nicht unter- zeichnete. Und auch später nie unterzeichnen wird.1 Obwohl er die dem Fürstentum von Napole- on offerierte <souverainete> annimmt. Pardon, nein: Er nimmt sie nur als Vormund seines von ihm als Souveränitätsträger eingesetzten dritten und dreijährigen Sohnes Karl an. Also: Die vom Fürsten von Liechtenstein am 12. Juli 1806 nicht und niemals unterzeichnete Rheinbundakte macht ein dreijähriges Kind zum souveränen Herrscher eines winzigen Fürstentums mit fünftausend mausarmen, nicht unbedingt <un- terthänigen> Seelen. Johann I. hat seine Gründe: Ihm, unter dem in mehr als hundert Treffen dreiundzwanzig Pferde ihre Leben lassen, ist die von Gegnerhand angebote- ne <souverainete> der Pegasus, der seine Familie zur Höhe eines regierenden Hauses aufschwingen lässt, eine Höhe, die viele ähnliche Adelsgeschlechter, die im Laufe der Mediatisierung und Nationenbildung ihre landesherrliche Macht verlieren, unter sich zurücklässt. Johann I. weiss, was ihm Napoleon an- bietet; er weiss aber auch, dass er als Rheinbund- fürst nicht mehr auf österreichischer Seite gegen Frankreich in die Schlacht ziehen dürfte. Er will bei-des 
und ersinnt die List, seinen jüngsten Sohn als Machthaber des Fürstentums einzusetzen. Auch Napoleon, der die liechtensteinische Ro- chade des Fürsten mit dem unmündigen Prinzen duldet, hat seine Gründe. Zum einen soll er langfris- tig eine Allianz mit Österreich ins Auge gefasst und den bewunderten, bei den Austerlitzer Waffenstill- stands- und Friedensverhandlungen 1805 bereits näher beschnupperten Schlachtengegner Johann I. als diesbezüglichen Mittler geneigt und vielleicht auch erpressbar gewünscht habend Zum anderen mutmasst die Geschichtschreibung über ein napo- leonisches Prinzip territorialer Manipulation: Jeder grosse Rheinbundstaat wird mit der Existenz eines benachbarten und sehr viel kleineren Staates be- schäftigt und umgekehrt.3 Damit wäre die <souve- rainete> des kleinen Fürstentums ein punktgenau gesetztes Gegengewicht des als Rheinbundstaat um Vorarlberg und Tirol vergrösserten Bayerns. So sehr die Beweggründe für das Geben und Nehmen dieser schon damals als wunderlich gel- tenden Rheinbund-<souverainete> für das Fürsten- tum Liechtenstein für die Geschichtsschreibung eine Spur verschleiert bleiben, so sehr ist heute noch etwas Hintergründiges, auch Hinterlistiges zu spüren, ein fintenreiches und dennoch seltsam wohl- wollendes Ködern, Locken und unverbindliches Kos- ten, fast so, als wäre es ein Spiel gewesen. Tatsache ist, dass Johann I. nach dem Pulverrauch und dem Mediatisierungsgetümmel der napoleonischen Ära die Souveränität für einen Staat in Händen hält und behält, den es in dieser Form nach dem Wiener Kongress 1815 überhaupt nicht mehr geben dürfte. Kommt die <souverainete> für das Fürstentum 1806 fast vorläufig, fast thesenartig zustande, so schlägt sie gültig und faktisch auf das Land und sei- ne Bewohner durch. Denn die <souverainete>, das heisst das Recht auf Gesetzgebung, Höchstgerichts- barkeit, Hohe Polizeigewalt, Militärkonskription und Steuerhoheit, ist vor allem eine Souveränität nach innen und weniger nach aussen. Schon 1808 - Jahre vor Napoleons politischem Ende - verpasst Johann I. meinen Vorfahren eine Dienstinstruktion, die sie sowohl entrechtet als auch unter seinen absoluten Willen bringt, wäh- 190
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.