Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

LIECHTENSTEIN UND DIE TSCHECHOSLOWAKEI BZW. DEREN NACHFOLGESTAATEN SEIT 1945 / ROLAND MARXER Einführung Nach der Auflösung der Österreichisch-ungarischen Monarchie entstand 1918 aus Böhmen, Mähren, (Österreichisch-)Schlesien und der Slowakei die Tschechoslowakei. Sie teilte sich 1993 in die Tsche- chische Republik und die Slowakische Republik.1 Die Tschechoslowakei anerkannte 1918 die liech- tensteinische Souveränität nicht und lehnte 1923 die Errichtung einer liechtensteinischen Gesandt- schaft in Prag und 1925 die Vertretung Liechten- steins durch die Schweiz ab. Sie betrachtete den Fürsten von Liechtenstein als den Habsburgern un- tergeordnet, um den Grundbesitz des Hauses Liechtenstein in die 1918 proklamierte Bodenre- form einbeziehen zu können. Durch diese wurden bis 1936 rund 57 Prozent des fürstlich-liechtenstei- nischen Grundbesitzes in der Tschechoslowakei enteignet. Im Juli 1938 stimmte die Tschechoslowakei der Vertretung der liechtensteinischen Interessen durch die Schweiz zu und anerkannte Liechtenstein da- durch implizit als souveränen Staat. Im Oktober 1938 erfolgte der deutsche Truppeneinmarsch und im März 1939 wurde das «Protektorat Böhmen und Mähren» geschaffen. 1945 brach die Tschechoslo- wakei die diplomatischen Beziehungen zu Liech- tenstein ab und konfiszierte entschädigungslos das Vermögen aller liechtensteinischen Staatsangehöri- gen, das auf ihrem Staatsgebiet lag (betroffen war vor allem das Fürstenhaus): Liechtensteinische Staatsangehörige wurden als «Personen deutscher Nationalität» im Sinne des Benes-Dekrets Nr. 12 angesehen, unter Missachtung der liechtensteini- schen Souveränität und Neutralität. Das gleiche Schicksal widerfuhr auch deutschsprachigen Staats- bürgern anderer Länder, zum Beispiel der Schweiz. Die meisten dieser Länder schlössen aber bereits unter dem kommunistischen Regime der Tschecho- slowakei Entschädigungsabkommen ab. Liechtenstein brachte gegenüber der Tschecho- slowakei ständig und wiederholt zum Ausdruck, dass es die 1945 erfolgte Konfiskation liechtenstei- nischen Vermögens als Vermögen von Personen «deutscher Volkszugehörigkeit» als einen inakzep- tablen Verstoss gegen das Völkerrecht ansieht. Bei der Aufnahme der Tschechischen Republik2 in den 
Europarat 1993 enthielt sich Liechtenstein der Stimme. Liechtenstein ratifizierte die Freihandels- abkommen der EFTA-Staaten mit der Tschechoslo- wakei bzw. ihren Nachfolgestaaten nicht.3 Bisher haben weder die Tschechische Republik noch die Slowakische Republik die 1938 erfolgte Anerken- nung Liechtensteins bestätigt. Sie waren auch nicht bereit, den Streitfall vor dem Internationalen Ge- richtshof (IGH) zu klären.4 Dies hat 2003 im Zu- sammenhang mit der Erweiterung des Abkom- mens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu Problemen geführt: Die beiden neuen EU-Staaten akzeptierten den Vorschlag, die Aner- kennung der liechtensteinische Souveränität seit 1806 zu bestätigen, nicht, was eine Verzögerung der Unterzeichnung des Abkommens um rund ei- nen Monat zur Folge hatte. Dabei gab Liechtenstein Erklärungen ab, in welchen auf die offenen Fragen und die liechtensteinische Position hingewiesen wurde.5 Die nachstehenden Ausführungen6 schildern die bilateralen und multilateralen Bemühungen Liech- tensteins seit Beginn der Neunzigerjahre des letz- ten Jahrhunderts, die durchgehende Anerkennung seiner Souveränität durch die Tschechische und Slowakische Republik zu erreichen. 1) Diese Einführung stützt sich auf den Artikel des Autors für das Historische Lexikon für das Fürstentum Liechtenstein. 2) Wenn nachstehend von der Tschechischen Republik gesprochen wird, gelten die grundsätzlichen offenen Fragen im Wesentlichen auch bezüglich der Slowakischen Republik. 3J Diese Frcihandelsabkommen sind in den Beziehungen der beiden Staaten zu Island, Norwegen und Liechtenstein ausser Kraft, seit die beiden Staaten am 1. Mai 2004 der EU beigetreten und damit Be- standteil des Europäischen Wirtschaftsraums, EWR, geworden sind. 4) Es sei zur Klarstellung daraufhingewiesen, dass die Klage Liechtensteins vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) - siehe «Exkurs» - sich gegen die Bundesrepublik Deutschland richtete, nicht gegen die Tschechische bzw. die Slowakische Republik. Am Verfahren vor dem IGH waren nur Liechtenstein und Deutschland beteiligt. 5) Siehe hierzu Kapitel «Die multilateralen Beziehungen Liechten- steins». S. 136-146. 6) Es handelt sich angesichts der Vorgaben zum Umfang des Artikels um eine Zusammenfassung wesentlicher Ereignisse, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. 133
	        

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