Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2006) (105)

DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH ALS FORSCHUNGSPROBLEM Die Historiographie des Heiligen Römischen Rei- ches hat ihre eigene Geschichte. Nachdem das Reich in den Revolutionskriegen untergegangen war und einer ahistorischen Staatenlandschaft in neuen Grenzen Platz gemacht hatte, neigten natio- nalstaatliche Historiographien zu mancherlei Ver- zerrung: Die preussisch-kleindeutsche Spielart ent- wertete das Reich systematisch, um den Ex-Reichs- stand Brandenburg-Preussen als Heilbringer natio- naler Einheit präsentieren zu können - und nicht als reichspolitisch desintegrative Macht. Parallel neigte die österreichisch-ungarische Spielart zum Rückwandernlassen eines Völkerrechtssubjekts Ös- terreichs in die Zeit vor 1804 beziehungsweise 1806, in der die Quellen 
des Jus Publicum Europae- um völlig unzweifelhaft den Kaiser des Heiligen Rö- mischen Reiches hatten auftreten lassen. Aus derar- tigen Ansätzen entfloss die These der 600-jährigen Dauerkrise und des permanenten Reichszerfalls seit der Stauferzeit mit dem Clou, dass die Reichsstände bereits im Westfälischen Frieden von 1648 die (Quasi-)Souveränität erlangt hätten. Interessanter- weise ist letztere Überpointierung von der liechten- steinischen Historiographie nie ernsthaft aufgegrif- fen worden. Eine grundsätzliche Neubewertung des Heiligen Römischen Reiches ist seit den 1970er Jah- ren von Autoren wie Moraw, Press, Aretin, Willo- weit, Schmidt oder Marquardt vorgenommen wor- den.2 Dabei ist ein geradezu umgekehrtes Bild zur Zerfallsperspektive gezeichnet worden. Diese hatte nämlich den Blick dafür versperrt, dass zwischen 1495 und 1648 ein staatlicher Verdichtungsprozess auf Reichsebene stattfand und die Reichsstände des Jahres 1700 viel weniger souverän waren als ihre Vorfahren des Jahres 1400, sofern von reichsperi- pheren Sonderentwicklungen wie Brandenburg- Preussen oder der Schweiz abgesehen wird. Detail- lierte Forschungen haben einen hohen Stellenwert des Kaisers im Reich, des Ständewesens, der Reichsgerichtsbarkeit, der Verfassungsgerichtsbar- keit, der Reichsexekutionen oder der Reichsgesetz- gebung erkennen lassen, wobei das Heilige Römi-sche 
Reich nunmehr in einer gewissen Gemeinsam- keit zu England als eines der Urmodelle protoverfas- simgsstaatlicher Entwicklung gelten kann. VADUZ UND SCHELLENBERG IM DELEGATIONSSTAATLICHEN REICHSVER- BAND DES 14. UND 15. JAHRHUNDERTS Eine Geschichte der Reichsbeziehungen des Liech- tensteiner Raumes lässt sich erst ab dem 14. Jahr- hundert schreiben, obwohl das Reich damals be- reits seinem 400sten Geburtstag entgegensah. Das liegt nicht nur an der relativen Quellenarmut frühe- rer Zeiten, sondern auch daran, dass erst das Wechselspiel aus hochmittelalterlichen Rodungen und agrarischer Flächenerschliessung zu einer herrschaftlichen Durchstrukturierung des geogra- phischen Raumes führte, basierend auf dem Typus der dynastischen Gerichtsherrschaft, die wir in der Sprache der segmentären Verfassungstheorie als Lokale Herrschaft begreifen.3 Im Alpenrheintal verkörperten kleinkammerige Herrschaftszellen wie Vaduz, Schellenberg, Werdenberg, Maienfeld, Sax- Forstegg, Sonnenberg, Blumenegg oder Feldkirch gleichermassen diesen Grundtypus. Wenn wir vom Heiligen Römischen Reich in den Grenzen des 14. Jahrhunderts ausgehen, so lag Liechtenstein ungefähr in der Mitte dieses sich quer durch Europa von den toskanischen Höhen über die Alpen bis zur Ostsee erstreckenden Gross- verbandes. Innerhalb der lateinischen Christianitas handelte es sich nicht nur um das grösste Herr- schaftsgebilde, sondern auch um die ideelle Primär- monarchie: Um das einzige Kaisertum im Kranze der Königtümer, um das bereits begrifflich aus der Gruppe 
der Regna herausragende Imperium, um die staatsidentische Fortführung des antiken Rö- merreiches, um das letzte der biblisch geweissag- ten Weltreiche sowie um den Schirmvogt der abend- ländischen Kirche. Insofern hatte es eine gemein- europäische Dimension, die das quellenfremde Na- tionaletikett Deutsches Reich verdeckt. So umfassend die Herrschaftsideologie des Rei- ches auch war, so weit war es im Inneren von der 8
	        

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