Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2004) (103)

Begnadigung der Täter forderten;24 das fürstlich- liechtensteinische Gericht verhängte Strafen, die an der untersten Grenze des rechtlich Möglichen ange- siedelt waren. Eine «Affäre» jedenfalls war das nicht. Es war, was von einem nicht geringen Teil Liechten- steins, von Bürgerinnen und Bürgern, Gericht und politischen Spitzen des Landes, zur Menschheitska- tastrophe des 20. Jahrhunderts aktiv beigetragen wurde. SIPPENDENKEN Es ist schon merkwürdig, dass der Brief Emma Roe- der-Schädlers so lange Zeit unbemerkt bleiben konn- te. Ein anderes Schreiben, das Emma Roeder-Schäd- ler unmittelbar nach der Verhaftung ihres Bruders an den «Stürmer» in Nürnberg schrieb und das bei den Dokumenten im Landesarchiv liegt, ist hingegen seit längerem bekannt. Warum ist hier nicht weiter ge- forscht worden? In gewissem Sinne ist es verständ- lich. Die Forschung sieht sich hier vor ein Problem gestellt, das sie selbst nicht lösen kann, ja von dem es fraglich ist, ob es sich überhaupt lösen lässt. Dieses Problem besteht darin, dass in Gesellschaften wie der liechtensteinischen die Verbreitung von Informatio- nen, die einzelne Personen belasten, stets auch als Angriff auf deren Familien verstanden wird. Belastet werden durch die Untat Einzelner die Familien, de- nen sie angehören. Solches Sippendenken mag dem modernen Rechtsdenken so fremd sein wie nur et- was, mit seiner Wirkung ist zu rechnen. Es ist eine ge- sellschaftliche Realität. Und dieses schattenhafte Erbe, in das wir uns teilen, umfängt auch den, der sich vom Empfinden der Sippe frei glaubt. Sowie er eine Behauptung aufstellt, die eine Einzelperson be- lastet, er mag sie noch so gut belegen können, wird er nicht nur die Unterdrückung der Information zu ge- wärtigen haben, er wird sich vielmehr selbst unter Sippenhaftung genommen sehen, indem man ihm unterstellt, erhandle nichtaus persönlichen, z.B. Ge- wissensgründen, sondern aus Familieninteresse. Dass die Sippe den Einzelnen präge, glaubt bis heute eine Mehrheit im Land.25 Man ist ein «Frick», man ist ein «Frommelt», man ist ein «Haas», und da-mit 
soll erklärt sein, wieso ein Einzelner sich so und nicht anders verhält. Die Steigerung dieses Glaubens: dass der Einzelne für seine Sippe hafte, beipielswei- se für das Fehlverhalten eines Verwandten, scheint freilich nicht mehr ganz das Gewicht von früher zu haben. Vielleicht ist man durch die Pervertierung bäuerlich traditionellen Denkens, die ein Bestandteil der Naziideologie war und unter den Nazis lebensbe- drohliche Ausmasse annehmen konnte, heutigentags gewarnt. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich unsere Gesellschaft von einer Schamkultur, in der der Begriff Schande zentral ist, zu einer Schuldkultur fortent- wickelt, in der der Einzelne allein für sein Tun und Nichttun verantwortlich ist. Schuld hat immer der Einzelne, Schande hat man nicht, Schande macht man anderen. Hoffen wir, dass diese relative Abschwächung des Sippendenkens tatsächlich eine gesellschaftliche Realität ist. Es wäre der, wie auch immer langsame, Untergang 
des ius sanguinis zugunsten der Heraus- bildung eines Rechtsbewusstseins im modernen Sin- ne. Möglicherweise stecken wir aber noch mitten in der Entwicklung von Bauern zu Bürgern, vom Sip- pendenken zum Rechtsdenken subjektiver Verant- wortlichkeit. Man sollte sich dieser Problematik eines auch heutigentags unterschwellig wirksamen Rechtsemp- findens stets bewusst sein, wenn im Zug der histori- schen Forschung die Frage nach der Schuld auf- taucht. In der Katastrophe der Familie Schaie-Rot- ter haben wir die Täterschaft mit der Sigle SRRF bezeichnet, in der Hoffnung, für einmal den Mecha- nismus der imaginären Familienhaftung nicht zu be- dienen. Auf keinen Fall sollten elende Familienge- schichten fortgeschrieben (und immer aufs Neue erzählt) werden. Wäre gesellschaftlich, kulturell, po- litisch hinreichend geklärt, wie es zu der Pogrom- bereitschaft bei der Katastrophe vom 5. April 1933 kommen konnte, könnte man die «Psychogramme» der einzelnen Teile von SRRF in die Erklärung einfü- gen. Dann könnte man die Täter vergessen, denn Tä- ter vom Zuschnitt von SRRF sind austauschbar. Die Opfer sind nicht austauschbar. Sie hiessen Gertrud und Alfred Rotter, Fritz Rotter und Julie Wolff. Mit dem Tod ist eine Grenze berührt, an der 66
	        

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