JAHRZEHNTE SPÄTER: BEGINNENDE AUFARBEITUNG Ungenaue und teils falsche Angaben enthaltende Be- richte riefen nach einer gründlicheren Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse rund um den Überfall auf die Rotter. Gründliche Studien und Darstellungen zu den Vorkommnissen des 5. April 1933 erschienen erst in den 1990er Jahren. In erster Linie ist dabei das 1997 veröffentlichte grundlegende Werk «Kri- senzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928-1939» von Peter Geiger zu nennen, aus wel- chem bereits mehrmals zitiert wurde. Ebenfalls 1997 erschien die von Andreas Bellasi und Ursula Riederer verfasste Publikation «Alsleben, alias Sommerlad. Liechtenstein, die Schweiz und das Reich».43 Beide Werke widmen sich ausführlich dem Überfall auf die Rotter.44 Erste kleinere Aufsätze mit wissenschaftlichem An- spruch, welche den Überfall auf die Rotter themati- sieren, erschienen in den 1980er Jahren. Zu nennen sind hier die Arbeiten von Joseph Walk, Horst Carl, Gerhard Krebs sowie von Herbert Wille. Allen vier Studien ist indes gemeinsam, dass die liechtensteini- sche Täterschaft nicht namentlich genannt wird. Joseph Walk, ein jüdischer Historiker,45 beleuch- tete in seinem 1986 veröffentlichten Aufsatz «Liech- tenstein 1933-1945» im Kapitel «Konflikte um die Einbürgerung jüdischer Emigranten» Hintergründe, Ablauf und Folgen des Überfalls auf die Rotter. Seine eher knappe Darstellung stützt sich auf das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Deutschland sowie auf Zeitungsberichte und Landtagsprotokolle aus Liechtenstein. Obwohl er wesentliche Aktenbestände im Liechtensteinischen Landesarchiv nicht verwer- tete, gelang ihm dennoch eine sehr brauchbare, wenn auch mittlerweile etwas korrektur- und ergän- zungsbedürftige Darstellung der Ereignisse.46 Dasselbe gilt auch für die 1987 publizierte Studie des deutschen Historikers Horst Carl, die sich unter dem Titel «Liechtenstein und das Dritte Reich» unter anderem mit der liechtensteinischen Einbürge- rungspolitik, die indirekt (auch) Auslöser des Ent- führungsversuchs war, sowie mit den innen- und
aussenpolitischen Folgen des Überfalls auf Gaflei be- fasse Die Schilderung des eigentlichen Überfalls auf Gaflei ist kurz gehalten. Horst Carl griff dabei auf die- selben Quellen wie Joseph Walk zurück.47 Gerhard Krebs erwähnt in seiner 1988 veröffent- lichten Studie «Zwischen Fürst und Führer. Liech- tensteins Beziehungen zum <Dritten Reich) » eben- falls den Entführungsversuch der Rotter. Krebs in- terpretiert, dass dieser Kriminalfall eine direkte Fol- ge von Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 war: Deutsche Stellen hatten im Februar 1933 davon Kenntnis erhalten, dass Alfred und Fritz Rotter im Fürstentum weilten. In Liechtenstein wohnende Sympathisanten des Nationalsozialismus erhielten ihrerseits Aufwind mit ihrer Idee, die Rotter zu ent- führen und sie an das Deutsche Reich auszuliefern: Die «Fünfte Kolonne» Hitlers konnte «in Aktion tre- ten». Wie schon Walk und Carl stützte sich Gerhard Krebs in seiner Studie vornehmlich auf die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Deutschland.48 «AGGRESSIVE ZÜGE EINER NATIONAL- SOZIALISTISCHEN STRÖMUNG IM LANDE» Bereits im Jahr 1981 erschien ein Aufsatz des Liech- tensteinerjuristen Herbert Wille zum Thema «Land- tag und Wahlrecht im Spannungsfeld der politischen Kräfte in der Zeit von 1918-1939». Darin werden im Kapitel zum 1933 erlassenen Vollmachtengesetz «ag- gressive Züge einer nationalsozialistischen Strö- mung im Lande» ausgemacht. Dabei wird ein direk- ter Bezug zum Überfall auf die Rotter hergestellt. Die Geschehnisse rund um den Entführungsversuch werden von Herbert Wille knapp, aber unter Berück- sichtigung des Aktenmaterials im Liechtensteini- schen Landesarchiv dargestellt. Herbert Willes Bei- tragist die erste wissenschaftliche Studie, welche die gescheiterte Entführung der Rotter ansatzweise und, was ihren besonderen Wert ausmacht, nach erfolgter Einsichtnahme in relevantes Aktenmaterial in Vaduz skizziert.49 26
