Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2004) (103)

1939 
1939/41 Die Anfänge liechtensteinischer Identitätsbildung werden verschiedentlich mit dem Historiker Peter Kaiser und seiner 1847 erschienenen «Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein» in Verbindung ge- bracht.20 Peter Geiger bezeichnet den Liberalen Pe- ter Kaiser gar als Erwecker der Liechtensteiner Iden- tität.21 Doch wieweit hatte diese Liechtensteiner Ge- schichte tatsächlich identitätsbildend gewirkt, wel- ches Potential birgt dieses Werk? Für eine gebildete Elite vermochte eine dezidiert bürgerlich-liberale Geschichtsschreibung zweifellos einen wertvollen Beitrag zur politischen Selbstverge- wisserung darzustellen. Der Historiker Peter Kaiser bot sich zudem für diese Kreise als Leitfigur an, weil er gleichzeitig als liberaler Politiker für die Stärkung der Volksrechte eintrat und 1848 die Forderung an den Fürsten richtete: «Wir wollen in Zukunft als Bür- ger und nicht als Unterthanen behandelt sein.»22 Ob sein Werk aber für grössere Teile der liechtensteini- schen Bevölkerung identitätsstiftend gewesen war, bleibt aus zwei Gründen fraglich: Der Verkauf des in Chur erschienenen Werks wurde erstens von der fürstlichen Obrigkeit anfänglich verboten, später nur mit Einschränkungen erlaubt. Noch um 1900 war Kaisers Buch bei den fürstlichen Landesbehörden verpönt, und die sich im Umlauf befindenden Exem- plare wurden eingesammelt.2S Zweitens stellt sich die grundsätzliche Frage, ob sich in diesem Werk überhaupt ein publikumsnah vermitteltes Identitäts- angebot findet, das massenwirksam für das von Kai- ser «entdeckte Volk»24 hätte identitätsstiftend wir- ken können. Wie Identitäten gewonnen werden, hat Jacques Lacan anschaulich beschrieben.25 In seiner Beob- achtung des Spiegelstadiums gelangt das Kleinkind, das einen Begriff des eigenen Körpers noch nicht selbst entwickeln kann, zu einer ersten Vorstellung seines Ichs über die Annahme seines Spiegelbildes. Das hat zur Folge, dass bei dieser Identitätsstiftung zuerst das Abbild und dann erst das Abgebildete vor- handen ist und dass die Vorstellung des Ich stets ein 
Verkennen bleibt, weil es auf ein Spiegelbild zurück- geht. Verstanden als eine Urszene der Identitätsstif- tung lässt sich Lacans Beschreibung der Stiftung ei- ner imaginären Identität durch Annahme eines (Spiegel-)Bildes auch auf Kollektive anwenden - zu- mal das Kollektiv «leibhaft» ist, wie mit Verweis auf Benjamin bereits festgestellt wurde.2'' Analog zur Be- spiegelung des Kleinkindes hat dabei auch das Kol- lektiv ursprünglich keinen Begriff seiner Physis und gewinnt die Vorstellung seiner Selbst über die An- nahme eines Abbildes. Als beispielsweise in der Eid- genossenschaft Ende des 19. Jahrhunderts aus der Bevölkerung der verschiedenen Kantone Schweize- rinnen und Schweizer geformt wurden, verlief dieser Prozess wesentlich über die Bereitstellung sinnstif- tender Geschichtsbilder.27 Doch der Liechtensteiner Geschichte fehlen sol- che bildhaften Elemente, die identitätsstiftend wir- ken könnten, es fehlt - und dies ist entscheidend - eine Urszene.28 In den jungen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts wurde die bürgerliche Ordnung hi- storisierend über einem sakralen Opfer errichtet, an das regelmässig in zivilreligiösen Handlungen erin- nert wurde. Grundlegend hat Julia Kristeva29 den Prozess der Errichtung einer neuen Ordnung be- schrieben, der sich auf die Gründung der bürgerli- chen Nationalstaaten übertragen lässt. Tatsächlich zeigt ein Vergleich verschiedener Nationalgeschich- ten, dass im Anfang ihrer Geschichten mit grosser Zuverlässigkeit die Figur eines <Bürgers> wie Arnold Winkelried oder einer <Bürgerin> wie Jeanne d'Arc steht, die sich für die Unabhängigkeit des Landes - und teleologisch gesehen für die neue Ordnung, nämlich den bürgerlichen Staat - opferte.30 Im Gegensatz hierzu lässt sich im historischen In- ventar Liechtensteins nirgends eine Szene ausma- chen, die solche Qualitäten besitzt. Am Beispiel des Kaufvertrages der Herrschaft Schellenberg von 1699 lässt sich der Mangel an geschichtsträchtigen Bil- dern zeigen. Dieser Vertrag, anlässlich des 300- jährigen Jubiläums im Faksimile vom Liechtenstein- 198
	        

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