Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2004) (103)

DAS KINO IM WIRTSHAUS «RÖSSLE» IN SCHAAN ANNETTE LINGG Die Freizeit und das Wirtshaus In den ersten Jahren nach der Erfindung der Kine- matographie fanden Kinovorstellungen in Wander- kinos statt. Diese bereisten das Land und machten auf Marktveranstaltungen und Kilbis halt. Eine Vor- aussetzungzur Herausbildungvon stationären Kinos war ein Filmverleihsystem. Damit wanderten nun die Filme anstelle der Kinos von Ort zu Ort. Wirtshäuser gehören zu den ersten Orten, in de- nen regelmässig Kinovorstellungen stattfänden, be- vor eigene Kinos gebaut wurden. In ihrem Entwurf einer möglichen Geschichtsschreibung von Kinos stellt Anne Paech eine chronologische Typologie von Kinobauten auf, in der Gaststättenkinos ganz am An- fang der Entwicklung stehen. Darauf folgen Ladenki- nos, Kino-Theater, Lichtspielhäuser, Filmpaläste, Filmtheater und Kino-Center.44 Zu der Zeit, als in Schaan das Gaststättenkino «Rössle» eröffnete, waren Kinos in eigens dafür ge- bauten Häusern demzufolge schon die Regel. Liech- tenstein, das bis in die 1930er Jahre Gaststättenkinos hatte und dessen erster Kinobau Mitte der Vierziger Jahre erfolgte, erfährt hier eine verzögerte Entwick- lung. In der Schweiz wurde das Kino um 1906/07 sess- haft. 1910 gab es in Zürich schon zehn stationäre Ki- nos.45 In ländlichen Gebieten ging diese Entwicklung allerdings langsamer vonstatten. So bereiste die Ki- nofamilie Leuzinger mit ihrem Wanderkinematogra- phen die ländliche Ost- und Zentralschweiz bis ins Jahr 1942.46 Die Zeit für ein eigenes Kino in Schaan scheint 1918 jedoch reif gewesen zu sein, schreiben doch die Gesuchsteller Schlumpfund Kaufmann in ihrem An- trag an die Regierung, dass an jedem noch so kleinen Ort in den Nachbarstaaten Gelegenheit zu Kinobesu- chen geboten sei, nur in Liechtenstein nicht. Die Schaaner Kinobesucher genossen in der Zeit von 1918 bis 1932 im Vergleich zu städtischen Ki- nobesuchern ein eher karges und schmuckloses Kinovergnügen. Während sie auf harten Holz- stühlen im behelfsmässig zum Kino umfunktionier- ten Wirtshaussaal sassen, sprach Siegfried Kracau- er 1926 von den «Palästen der Zerstreuung», den grossen Kinos in Berlin, die sich in Architektur und Ausstattung am Vorbild des Theaters anlehnten, 
und ein pompös wirkendes Vergnügen in gediege- ner Atmosphäre boten.47 Neben saisonalen Festen wie dem Jahrmarkt war das Wirtshaus das Zentrum für geselliges Vergnü- gung und sorgte für Abwechslung zum arbeitsrei- chen Alltag. Das Kino war im «Rössle» nur eine von vielen Möglichkeiten des Amüsements. Überra- schend ist die Vielfalt und grosse Anzahl der in Wirts- häusern stattfindenden Aktivitäten. Die Anzeigen im «Liechtensteiner Volksblatt» werben für Theaterauf- führungen, Konzerte und Tanzveranstaltungen, Preisjassen und Preiskegeln, Schau-Turnen, vieles davon Vereinsanlässe - Laiendarbietungen aller Art, wie sie heute in den Gemeindesälen stattfinden. Das Kino kann nicht isoliert von dieser lokalen Vergnü- gungs- und Unterhaltungskultur gesehen werden, sondern reiht sich in sie ein. Die Wirte erscheinen dabei als findige Unterneh- mer, die in ihrem Haus allerlei Unterhaltungen bo- ten, um Besucher anzuziehen, beziehungsweise bei der Stange zu halten. Damit wurden Gaststätten-Wir- te die ersten Kinobetreiber Liechtensteins. Die Kinoabende waren Teil der Vergnügungen im multifunktionellen Wirtshaussaal, und manchmal wurden zwei Sorten des Amüsements auch ver- knüpft: So verweisen zwei Kino-Annoncen auf eine anschliessende Tanzveranstaltung. Der Saal musste für die Kino-Vorstellungen wenig verändert werden: Der Projektor war dauerhaft in einem separaten Raum aufgestellt, und so musste lediglich die Lein- wand aufgehängt, die Stühle in eine Reihe gestellt 40) LLA RE 1922/5844. 41) LLA RE 1921/3660. 42) Ebenda. 43) LLA RE 1924/805. 44) Paech, Anne: Von der Filmgeschichte vergessen: Die Geschichte des Kinos. Berlin, 1989. S. 44. 45) Manz, Hanspeter: Zur Frühgeschichte des Kinogewerbes in der Schweiz. Zürich. 1968. S. 39. 46) Ebenda, S. 38. 47) Kracauer, Siegfried: Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser. Frankfurt am Main, 1972, S. 230. 165
	        

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