Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2002) (101)

ZWISCHEN MARKT UND ELFENBEINTURM - VOLKSKUNDE HEUTE / HERMANN BAUSINGER Aber es muss dann gleich eingeschränkt werden, dass zum Volk für Kaiser eigentlich nur die Besitzer und die Hausväter zählten; von den wirklichen Un- terschichten (und auch von den Frauen) ist bei ihm nicht die Rede. Erst in jüngster Zeit wurden ver- mehrt Anstrengungen unternommen, die Perspek- tive umzupolen zugunsten einer «Geschichte von unten», wie es schlagwortartig genannt wurde. Dass die entsprechenden Forderungen noch nicht abgegolten sind, zeigt beispielsweise die Skizze, die der Vaduzer Norbert Haas zum Thema Auswande- rung vorgelegt hat.18 Er schreibt in diesem Zusam- menhang: «Es müsste von sozialen Ausgrenzungen die Rede sein, von moralischen Verdikten, vom Umgang mit dem sogenannten Abnormalen». Dieser Appell charakterisiert auch die kritischen Tendenzen der historischen Volkskunde in der Ge- genwart. Die alten Schilderungen der Dorfgemein- schaft hatten die obrigkeitlichen Reglementierun- gen weithin ignoriert; von den unterbäuerüchen Schichten war kaum die Rede-, Spannungen und Widerstände wurden beiseite geschoben zugunsten des Bilds einer ausgewogenen Gemeinschaft. Die- ses Bild wurde in den 1960er und 1970er Jahren auseinandergenommen und sehr prinzipiell wider- legt. Jetzt war die Rede vom Not- und Terrorzu- sammenhang im Dorf.19 Das war ein Pendelaus- schlag nach der anderen Seite; inzwischen ist die- ses kritische Bild ergänzt worden durch den Hin- weis auf beträchtliche Kollektivleistungen und auch Kollektivrücksichten im alten Dorf, wie sie bereits in Arnold Niederers 
Buch «Gemeinwerk im Wallis» geschildert werden.20 - Entsprechende Kritik und Gegenkritik hat es auch in anderen Bereichen gegeben. Mit Recht wurde beispielsweise kritisiert, dass im Bereich der Volkslieder zwar das Lob der Heimat und auch das Lob der Herrschaft herausgestellt wurde, nicht oder kaum dagegen die Stimmen kritischen Pro- tests;21 dass in Volkssagen zwar die Verbindungen zu übersinnlichen Glaubensvorstellungen gesucht wurden, nicht aber die Aussagen über die Not und auch den Widerstand der Untertanen. Das ist eine neue Fragerichtung - und sie ist keineswegs über- holt; Ursula Brunold-Bigler hat gerade in ihren 
jüngsten Publikationen noch einmal auf diese sozi- alkritische Seite der Sage hingewiesen;22 und in Liedarchiven wurde auf dem Feld der Protestlieder eine reiche Ernte eingefahren.2i Überzogen wurde hier insofern, als ein Teil der Wissenschaftler die Bezeichnung Volkskultur für die Protestkultur reservierte.24 Damit war auch eine neue Einseitigkeit begründet. Volksbrauch war 13) Braun. Rudolf: Industrialisierung und Volksleben. Zürich. Stuttgart. 1960. - ders.: Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des Maschinen- und Fabrikwesens im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich, Stuttgart, 1965. 14) Möckli-von Seggern, Margarete: Arbeiter und Medizin. Zur Einstellung des Zürcher Industriearbeiters zur wissenschaftlichen und volkstümlichen Heilkunde. Baden, 1965. 15) Dornheim, Jutta: Kranksein im dörflichen Alltag. Soziokulturelle Aspekte des Umgangs mit Krebs. Tübingen, 1983. 16) Hugger. Paul: Zu Geschichte und Gegenwart der Volkskunde in der Schweiz. In: Handbuch der Schweizerischen Volkskultur. Hrsg. von Paul Hugger. Zürich, 1992, Band 1, S. 15-33; hier S. 26. 17) Brunhart, Arthur: Peter Kaiser 1793-1864. Erzieher, Staatsbür- ger, Geschichtsschreiber. Facetten einer Persönlichkeit. Vaduz, 1993 S. 198-200; vgl. Volker Press: Peter Kaiser und die Entdeckung des liechtensteinischen Volkes. In: Geiger, Peter (Hrsg.): Peter Kaiser als Politiker. Historiker und Erzieher. Vaduz. 1993, S. 53-73. 18) Haas, Norbert: Ich wüsste gerne mehr von Aline Alber. In: Allmende 18. Jahrgang (1998) Heft 58/59, S. 1 I 3-115; hier S. 114. 19) Ilien. Albert; Jeggle, Utz: Leben auf dem Dorf. Zur Sozialge- schichte des Dorfes und Sozialpsychologie seiner Bewohner. Opladen. 1978. S. 36. 20) Niederer. Arnold: Gemeinwerk im Wallis. Bäuerliche Gemein- schaftsarbeit in Vergangenheit und Gegenwart. Basel, 1956. 21) Steinitz. Wolfgang: Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. 2 Bände. Berlin. 1954 und 1962. 22) Brunold-Bigler. Ursula: Die Armut, die Krankheit und das «Leide» Wetter. Zur narrativen Bewältigung des Passionalen in alpinen Sagen. In: Brunold-Bigler, Ursula. Bausinger. Hermann (Hrsg.): Hören Sagen Lesen Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Bern etc., 1995. S. 117-131. - Brunold- Biegler. Ursula: Hungerschlaf und Schlangensuppe. Historischer Alltag in alpinen Sagen. Bern etc., 1997. 23) Klüsen. Ernst: Das sozialkritische Lied. In: Brednich. Rolf W.: Röhrig, Lutz; Suppa, Wolfgang. (Hrsg.): Handbuch des Volkslieds. Band 1. München, 1973, S. 737-760. 24) Dies gilt nicht nur für die deutsche und deutschsprachige Volkskunde; vgl. etwa Muchembled, Robert: Kultur des Volkes, Kultur der Eliten. Stuttgart. 1982. 137
	        

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