Volltext: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein (2002) (101)

Aber - und nun nähere ich mich doch der Kritik von Huber - was 
als Volkstumspflege bezeichnet wird und in den Augen optimistischer Pfleger und Sachwalter die alte Volkskultur bewahrt und rettet, ist eine Veranstaltung und nicht der Alltag, eine Inszenierung und nicht das Gegebene, und selbst wo der zahlenmässige Anteil dieser Volkstumspfle- ge an den Erscheinungen der Volkskultur beträcht- lich ist, gilt doch das Urteil, dass diese Bestrebun- gen nicht unbedingt populär sind. Eduard Strübin hat dies im Baselbiet untersucht. Der «Einfluss der Heimatbewegung», so formuliert er vorsichtig, sei «schwer abzuschätzen». Aber dann wagt er doch das Resümee, «dass zwar viele Einzelne Freude und innere Bereicherung erleben» durch die Mass- nahmen der Volkstumspflege, dass «aber das Volk in seiner grossen Mehrheit nicht tiefer berührt wird».9 Im Klartext heisst das: Auch wenn man über den Stellenwert, über das Ausmass der Wirkung sol- cher Pflege streiten kann - es gibt jedenfalls unter dieser Glasur etwas ganz anderes, einen neuen Zu- schnitt von Normen, Formen und Aktivitäten, de- nen man zwar oft den Namen Volkskultur verwei- gert, der aber zur Signatur unserer Zeit gehört und nicht einfach im toten Winkel der Wissenschaft bleiben sollte. Ich komme später darauf zurück. Zunächst möchte ich der Meinung entgegentreten, erst die allerjüngste Entwicklung habe die traditionelle volkskundliche Blickweise und das herkömmliche Instrumentarium obsolet oder unzureichend ge- macht. Der eingeschränkte Blick ist ein Erbstück, man kann auch sagen: ein Taufgeschenk der Volks- kunde. Seit man von Volkskunde sprechen kann, wurden ihre Vertreter mit dieser Sehweise ausge- stattet, so, wie man gelegentlich im Kino bei be- stimmten Filmen eine 3-D-Brille verpasst be- kommt. Mit dem Unterschied allerdings, dass der Blick auf einen Teilbereich der kulturellen Wirk- lichkeit fixiert und andere Teilbereiche ausge- schlossen wurden. Ich will versuchen, das an einem Beispiel zu ver- deutlichen. Theodor Fontane erinnert sich in ei- nem Brief vom März 1886 (gerichtet übrigens an 
Moriz Lazarus, einen der Begründer der Völker- psychologie und auch der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde) an einen Freund, mit dem er sich in England über das Verhältnis von Kunstlied und Volkslied unterhalten hat. Dieser Freund zitierte ein volkstümliches Lied und verglich es mit den an- spruchsvolleren, aber auch auf Popularität zielen- den Versen des Lyrikers Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Das Urteil: «Gleim ist vergessen. Volk, Volk, alles andere ist Unsinn».10 Das hören die Volks- kundler natürlich gerne. Fontane aber bezieht die- se Äusserung nun auf ein Lied, das damals in Ber- lin die Runde machte: «Mutter, der Mann mit dem Koks ist da ...». Fontane schreibt zu diesem Gas- senhauer: «Er wird zwar nicht 100 Jahre leben, auch nicht 100 Tage, aber es ist doch immer was, einer Millionenstadt auf vier Wochen hin ein be- stimmtes Wort oder Lied in den Mund gelegt zu ha- ben». Fontane täuschte sich mit seiner Prognose: das Lied gab es auch noch nach 100 Tagen, und auch nach 100 Jahren ist es noch bekannt. Ganz si- cher aber hatte er recht mit dem Hinweis auf die Volkstümlichkeit des Liedes - «Volk, Volk; alles an- dere ist Unsinn». Aber - hier ist offenbar ein ande- res Volk gemeint als das der Volkskunde, in deren grossen Volksliedsammlungen jenes Lied nirgends auftaucht. Es gab Ausnahmen, aber im allgemeinen war die Vergabe des 
Etiketts Volk an bestimmte Voraus- setzungen gebunden. Es musste etwas Altes sein, möglichst etwas Uraltes, es musste aus der Region kommen, und es musste im allgemeinen aus dem bäuerlichen Milieu stammen. Damit waren nicht nur die Gassenhauer ausgeschlossen, die ja keines- wegs nur in den Grossstädten verbreitet waren, sondern auch vieles andere. Ein paar Andeutungen dazu: - Die Volkskundler haben im letzten Jahrhundert damit begonnen, Märchen und Sagen zu sammeln aus der mündlichen Überlieferung, und sie haben versucht, die Verbreitung von Märchen und Sagen literarisch durch zahlreiche Editionen abzusichern. Schon im 19. Jahrhundert dürfte es mehr gedruck- te als erzählte Sagen und Märchen gegeben haben. Die Volkskunde ignorierte die populären Lesestoffe 134
	        

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